“Back to the roots!”: Russische Designer wenden sich wieder ihren traditionellen Wurzeln zu. Anastassija Romanzowa, Wjatscheslaw Sajzew und Uljana Sergejenko beispielsweise kreierten gar eine eigene „Haute couture á la Rus“, indem sie traditionell blumige Ornamentelemente, Handstickerei und folkloristische Formen in einen neuen, modernen Kontext bringen.
Seit Beyoncé im Videoclip zu ihrem Song “Jealous” Sergeejenkos Spitzenteilchen trägt, hat sogar die internationale Modewelt Notiz von der Handwerkstechnik aus Wologda genommen. Nun kehrt sie auf moderne Designerkleider und als Handarbeitshobby in ihrer Heimatregion, etwa 300 Kilometer nördlich von Moskau, zurück.
Die Kunst des Umkreisens
Das russische Wort “kruschewo” (Spitze) kommt von „okruschatj“ (einkreisen) und erinnert daran, dass diese Muster traditionell Röcke, Kleider, Tischdecken und andere Kleidungsstücke und Accessoires umrandeten. Von den weiteren Kruschewo-Zentren Kostroma, Nischnij Nowgorod und Jelez hat sich Wologda abheben und zu einem Aushängeschild des russischen Handwerks allgemein entwickeln können.
Das Muster muss natürlich überall einheitlich sein in Größe und Form in all seinen Blumenelementen, die dann mit grazilen Fädchen verbunden werden. Dieser sich durch die gesamte Arbeit ziehende Faden heißt „wiluschetschka“, und ihn zu erzeugen, ist nicht gerade leicht. Insgesamt besteht eine Spitze aus vier Elementen: dem Netz, dem Leinen, der Welle und den Figuren. Und natürlich der Fantasie des Künstlers!
Um ein perfektes Muster zu erhalten, muss eine richtige Ausbildung in dem Handwerk absolviert werden. Auch Webtechniken sollte man beherrschen. Meistens wird Spitze in hellen Farben, weiß oder Beige, hergestellt. Manchmal aber auch in Schwarz. Wenn es sich um ein besonders großes Spitzenstück handelt, kann die Arbeit auch unter mehreren Arbeitern aufgeteilt und am Ende zusammengenäht werden.
Die Wologda-Spitze wird vollständig mit Holzklöppeln und aus besonderem Leinen oder Baumwolle hergestellt. Geklöppelt werden flächenmäßig große Deko- und Tischtücher, Hochzeitsaccessoires, dekorative Schals und Bordüren für Kleidungsstücke.
Sowjetische Spitze für die Sowjetspitze
In den 30er Jahren hielt die sowjetische Symbolik Einzug in die traditionellen Handwerksstücke. Die Näherin bildeten immer öfter Fallschirmspringer, Kremlsterne und die großen Erträge der sowjetischen Landwirtschaft in ihren Arbeiten ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zahlte die Sowjetunion übrigens unter anderem auch mit Spitze-Arbeiten an die USA für deren Rüstungstechnik, die Moskau zuvor geliehen hatte. Der Preis für echte handgeklöppelte Spitze war immer sehr hoch, ein solcher Schal oder Schultertuch war also immer auch ein besonderer Wert.
Während in den 30ern noch Tausende in der Wologdaer „Sneschinka“-Spitzen-Manufaktur arbeiteten, sind es heute nur noch ein paar Dutzende. Eine von ihnen ist Ilja Wereschtschagina, Handarbeitsmeisterin und Lehrerin am dem Spitzen-Museum angegliederten Studio. „Seit meinem Abschluss 1965 arbeite ich schon mein ganzes Leben in der Sneschinka-Manufaktur: als Meisterin und Ingenieurin“, erzählt sie. „Zu Sowjetzeiten gab es keine Probleme mit dem Material – so viel Faden, wie wir wollten, wurde in Kostroma produziert.“
Die Sneschinka-Klöpplerinen arbeiteten damals nicht nur für den Verkauf, sondern auch für das Museum und private Sammler. Viele Touristen hätten Interesse gehabt, sagt Wereschtschagina: „Einmal bestellten sie sogar Gardinen für Fenster. Ein anderes Mal bestellten Japaner einen Überwurf für ihr Sofa. Zu Sowjetzeiten gab es viele Treffen mit ausländischen Handwerkern – zum Beispiel aus Finnland und Deutschland.“
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion allerdings erging es dem Handwerk wie so vielen anderen: Erst in den 2000er Jahren wuchs das Interesse an den Arbeiten wieder und mit der Eröffnung des Museums in Wologda kehrte die Spitze wieder ins Bewusstsein der Menschen zurück.
Wozu heute noch klöppeln und weben?
Zu dem Museum gehören nun auch Handarbeitskurse, die auch jungen Leuten wieder die grazilen Künste näherbring. „Meine Großmutter konnte das noch“, erinnert sich hier die junge Friseuse Natalja Winogradowa. „Und mich hat das auch angesprochen. ich habe viel genäht, gestickt, Spielzeug gebastelt. Dann habe ich die Aushänge über die Kurse gesehen. Im Februar habe ich angefangen und im April hatte ich schon meine ersten eigenen Arbeiten.“
Winogradowa betreibt Handarbeit nur zu ihrem eigenen Vergnügen: „Mal mache ich eine Serviette für meine Mutter, dann ein Halsstück für die Schwiegermutter. Ich webe es und verschenke es.“
Die Klöppel suchen sich die Handwerklerinnen natürlich selbst aus: modern oder altmodisch – die meisten werden auch in der Region Wologda hergestellt. Sie unterscheiden sich nicht nur in Dicke und Form, sondern auch im Material. Jedes Klöppelpaar hat einen eigenen Klang, erzählen die Expertinnen: Birke klingt anders als Esche!
Achtung, Ansteckungsgefahr!
Die Volkskunstmeisterin Marina Kolossowa hat die Wologda-Spitze erstmals im Kindergarten kennengelernt: “Das Schwierigste ist gar nicht unbedingt, die Fläche zu weben, sondern das Muster zu entwickeln. Ich zeichne es selbst und versuche es dann umzusetzen.“
Jährlich findet in Wologda das “VitaLace”-Festival statt. 2011 haben Handarbeiterinnen auf dem Roten Platz in Moskau mit dem größten Spitzenstück der Welt einen Weltrekord aufgestellt und sind damit ins russische Buch der Rekorde aufgenommen worden. 570 Klöpplerinnen arbeiteten daran.
Aber besonders biete sich das Klöppeln für lange Winterabende an, sagt Winogradowa. „Als ich angefangen habe, wollte es plötzlich auch meine Tochter lernen. Also schickte ich sie in das Kinderstudio. Und wenn ich Bilder in den sozialen Netzwerken poste, dann sind viele begeistert und wollen das auch lernen!“