Im April eröffnete die Tretjakow-Galerie die erste große russische Ausstellung des weltberühmten Norwegers Edward Munch. Auch wenn nicht viele seiner Gemälde in Russland bekannt sind, hat Munchs Werk eine engere Verbindung zu Russland, als wir uns bisher vorstellen konnten. Sein Vorbild und Inspirator war Dostojewski, und das berühmteste Werk des Künstlers Der Schrei sieht aus, als ob man einem von Dostojewskis Dämonen gegenübersteht.
"Der Schrei", 1893
Nationalgalerie von NorwegenDie Direktorin der Tretjakow-Galerie, Selfira Tregulowa, die seit mehreren Jahren mit dem Munch-Museum in Oslo verhandelt hatte, stellte fest, dass Munch das getan habe, was Dostojewski in der Literatur getan hat: „Er krempelte die menschliche Seele von innen nach außen und zeigte all die Abgründe der Leidenschaft auf, die die Menschen zerreißen. Er zeigt die Komplexität der menschlichen Natur.“
Die Boheme Oslos der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts, zu dem auch der junge Munch gehörte, war eine Ansammlung kreativer Anarchisten, die bei ihren Trinkgelagen ins Norwegische übersetzte Texte Dostojewskis vorlasen.
„Wird irgendwann jemand diese Zeiten beschreiben können? Wir brauchen einen Dostojewski oder zumindest eine Mischung aus Krogh [Maler und Mentor von Munch], Jæger [ein skandalöser anarchistischer Schriftsteller] und vielleicht mir selbst, um so überzeugend zu beschreiben, wie es Dostojewski am Beispiel der russisch-sibirischen Stadt geschafft hat, den Untergang Kristianias [das ist der alte Name Oslos] darzustellen – nicht nur damals, sondern auch heute“, schrieb Munch.
Die Erzählung Die Sanfte, ein weniger bekanntes Werk Dostojewskis, hat Munch wahrscheinlich am stärksten beeinflusst. Es ist eine Geschichte über den Selbstmord einer unglücklichen jungen Frau, die einen verhassten Kredithai heiratet, um ihrer Armut zu entkommen.
Experten gehen davon aus, dass Zwischen Uhr und Bett, eines der berühmtesten Selbstporträts Munchs, das einen weiblichen Akt darstellt, tatsächlich eine Illustration für Die Sanfte ist.
"Zwischen Uhr und Bett", 1940-1943
Munch-MuseumDie Schwäche für kranke und missgestaltete jungen Frauen in ihrem künstlerischen Schaffen ist Munch und Dostojewski gemein. Eines der berühmtesten Gemälde Munchs – Das kranke Kind – das wegen seiner „Unvollständigkeit“ für heftige Kritik sorgte, spiegelt die Trauer des Künstlers über den Tuberkulose-Tod seiner geliebten Schwester wider.
"Das kranke Kind", 1885-1886
Nationalgalerie von Norwegen„Wirklich, ich weiß nicht, warum ich mich so an sie gebunden habe. Mir scheint, weil sie immer krank ist... Wenn sie zudem noch lahm und bucklig wäre, würde ich sie noch mehr lieben...“, erklärte Raskolnikow, der Held des Romans Schuld und Sühne.
Der Munch-Biograph Rolf Stenersen beschreibt eine seltsame Methode, mit der der Künstler, der seine Bilder als seine eigenen Kinder betrachtete, diejenigen seiner Werke „erzog“, die ihm nicht gelungen erschien. Er setzte solche Bilder Regen, Wind und Schnee aus und sammelte sie erst nach einer Weile wieder ein. Es ist bekannt, dass er so an dem Gemälde Angst (1894) arbeitete, das dabei sehr stark beschädigt wurde. Versehentliche Schlieren, wie z.B. Spuren von Vogelkot, wurden Teil des Bildes.
"Trennung", 1896
Munch-MuseumDie Technik nannte Munch selbst hestekur, was ins Deutsche mit Rosskur übersetzt werden kann. Experten glauben, dass dies ein Hinweis auf Raskolnikows Traum ist, in dem der Held einen Mann dabei beobachtet, wie dieser seinen alten Klepper prügelt, nur weil dieser „seiner“ ist. Und die Menge johlt: „Schlag ihn tot!“.
Selbstporträt
Munch-MuseumMunch war möglicherweise der Begründer dessen, was heutzutage als Fan Art bezeichnet wird. In einem seiner vielen Selbstporträts stellte er sich mit der Hand eines Skeletts dar. Es wird angenommen, dass dieses Werk von einem Porträt Dostojewskis inspiriert wurde, das in einem ähnlichen Stil vom Schweizer Künstler Felix Vallotton gemalt wurde.
In der Ausstellung befindet sich ein Büchlein, das dem Künstler gehörte. Es liegt in einem Schaukasten neben dem Brief Sergej Djagilews, des Gründers der Ballett-Show Ballets Russes an den Künstler. Es handelt sich dabei um Djasvlene – so heißt der Roman Dämonen auf Norwegisch. Mit diesem Buch auf dem Nachttisch wurde Munch 1944 tot auf seinem Landgut bei Oslo aufgefunden.
Russia Beyond möchte sich bei der Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Dozentin, Autorin und Moderatorin des Podcasts Kunst für Kinder Anastasia Tschetwerikowa bedanken.
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