„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich“. Mit diesem legendären Satz beginnt Leo Tolstoi seinen Roman. Der Leser lernt zunächst nicht die Hauptheldin kennen, sondern ihren Bruder Stiwa. Dieser hat seine Frau betrogen, sie hat es herausgefunden und in ihrer einst glücklichen Familie mit fünf Kindern geht alles schief.
Tatsächlich reist Anna Karenina von St. Petersburg nach Moskau, um dem Paar bei der Versöhnung zu helfen – und es gelingt ihr tatsächlich. Auf Annas Rat hin verzeiht Stiwas Frau ihm, als ob nichts geschehen wäre.
Am Bahnhof trifft Anna Alexej Wronskij, einen gut aussehenden jungen Offizier. Als er sie sieht, kann er nicht aufhören, an sie zu denken... Anna liebt ihren Mann nicht mehr (er ist viel älter), sie ist gelangweilt von dem begüterten Leben und auch ihr achtjähriger Sohn spendet ihr keine Freude. Und in dieser Stimmung verliebt sich Anna in Wronskij.
Ihre Affäre wird so leidenschaftlich, dass die feine Gesellschaft darauf aufmerksam wird und verurteilt. Auch Annas Ehemann bittet sie, sich bescheidener zu verhalten... Nach der ersten Nacht, die Karenina und Wronskij miteinander verbracht haben, fühlt sie sich wie eine Verbrecherin und erkennt, dass sie von da an für immer aneinander gebunden sind.
Wronskij schlägt Anna vor, ihren Mann zu verlassen und ihn zu heiraten. Doch Karenin lässt sich nicht scheiden – und „bestraft“ sie: Er zieht um und nimmt ihr den gemeinsamen Sohn weg.
Auch Wronskij befindet sich in einer schwierigen Situation. Wenn er sich offen mit Anna treffen würde, müsste er den Dienst in der Armee quittieren, aber er mag seinen Status und sein Leben (sowie die Aufmerksamkeit der Frauen). Schließlich bringt Anna ein gemeinsames Kind zur Welt, woraufhin Wronskij seinen Hut nehmen muss. Sie ist bereits in einem sehr hysterischen Zustand, müde von all den Lügen, der öffentlichen Verurteilung, den Problemen mit ihrem Mann und fühlt sich unglücklich.
Wronskij ist von ihren Wutausbrüchen und endlosen Vorwürfen erschöpft. Schließlich wirft sich Anna vor einen Zug. Wronskij versucht, mit allem fertig zu werden und meldet sich freiwillig zum Krieg, während Karenin die Betreuung des gemeinsamen Kindes von Karenina und Wronskij übernimmt.
Was verbirgt sich hinter diesem Roman?
Tolstoi ist ein berühmter Verfechter moralischer Werte, und in seinem Verständnis ist Ehebruch die größte Sünde. In seinen späteren Romanen und Sachbüchern greift er das Thema immer wieder auf und vertritt die Auffassung, dass es sich um eines der größten Probleme der gesamten Gesellschaft handelt.
Kritiker sind der Meinung, dass Tolstoi Anna durch deren Selbstmord „bestraft“. Er verurteilt sie dafür, dass sie ihren Sohn wegen ihrer Affäre im Stich lässt und die Leidenschaft über die Familienwerte stellt. Gleichzeitig entpuppt sich ihr Ehemann, Karenin, der anfangs nicht sehr sympathisch ist, als ein äußerst moralischer Mann.
Ein weiterer wichtiger Handlungsstrang, der dem von Karenin gegenübersteht, ist der von Konstantin Lewin (der als Tolstois Alter Ego gilt). Er ist ein treuer Mann, der sein Glück in der Pflege seines Anwesens und seiner Ländereien findet und sogar mit den Bauern das Gras mäht (eine authentische Episode aus Tolstois Biografie). Er verliebt sich in eine junge Frau mit dem Spitznamen Kity, die zunächst heimlich in Wronskij verliebt ist. Aber Lewins Aufrichtigkeit erweist sich als stärker. Und am Ende heiraten sie und sind glücklich (im Gegensatz zu Kareninas und Wronskijs mit ihrer toxischen Beziehung).
Der Roman voller komplexer Emotionen und Gefühle, die Raum für Interpretationen lassen, wurde zu einem der populärsten Bücher Russlands, beeinflusste viele andere Autoren und wurde weltweit Dutzendmal verfilmt.