Stimmt es, dass Leo Tolstoi ein Anarchist war?

Er betrachtete jede Macht als Gewalt und schlug daher vor, ganz auf sie zu verzichten.

Leo Tolstoi kann in der Tat, mit einigen Vorbehalten, als Anarchist bezeichnet werden. Er erkannte keine Autorität an und fürchtete sie nicht. Der große Schriftsteller prangerte die russischen Behörden und die Kirche direkt an. Seine Anhänger wurden verhaftet und verbannt, seine Bücher und Artikel wurden verboten (Kreutzersonate, Christentum und Patriotismus, Was ist mein Glaube? und andere). Aber niemand wagte es, den Schriftsteller selbst anzutasten. Erst am Ende seines Lebens wurde er exkommuniziert, aber selbst das war irgendwie halbherzig – der Bannfluch wurde in keiner Kirche verkündet. Übrigens hatte er große Gönner: Die Tante des Schriftstellers, Alexandra, war zum Beispiel Trauzeugin der Zarin Maria Fjodorowna, der Frau von Alexander III.

Gegen jede Gewalt

Im Laufe seines langen Lebens überdachte Tolstoi mehrmals die Probleme der menschlichen Macht, der Staatlichkeit und ihrer Vereinbarkeit mit der Moral. Er verurteilte jegliche Gewalt, und eines der wichtigsten Prinzipien seiner späteren Philosophie war der Nichtwiderstand gegen das Böse durch Gewalt. In diesem Sinne stand er den östlichen Denkern und dem Taoismus nahe. Dabei inspirierte sein Prinzip zum Beispiel Mahatma Gandhi, mit dem Tolstoi sogar korrespondierte. Von Tolstoi, so Gandhi, habe er Satyagraha gelernt – gewaltlosen zivilen Ungehorsam, passiven Widerstand.

Tolstoi hatte eine schlechte Meinung von den russischen Behörden, aber er sah auch die westlichen Staaten nicht in einem guten Licht. Die gesamte Geschichte Europas, so Tolstoi, ist eine Geschichte törichter und korrupter Herrscher, die „ihr eigenes Volk töten, ruinieren und vor allem verderben“. Wer auch immer den Thron besteigt, wiederhole immer das Gleiche: Tod und Gewalt gegen das Volk. Und das geschieht sogar in allen „angeblich freien Rechtsstaaten und Republiken“.

Wären die Herrscher gute und moralische Menschen, wäre es zu rechtfertigen, ihnen ein ganzes Volk anzuvertrauen. Tolstoi zufolge sind es jedoch immer die „schlechtesten, unbedeutendsten, grausamsten, unmoralischsten und vor allem betrügerischsten Menschen“, die regieren, als ob all diese Eigenschaften eine notwendige Bedingung für Macht wären.

In dem Artikel Eins aber ist Not. Über die Macht des Staatesstellt Tolstoi „den Lüstling Heinrich VIII.“, „den Schurken Cromwell“ und „den Heuchler Karl I.“ auf eine Stufe ... Sehr grob äußert sich der Schriftsteller über die russischen Zaren: Er nannte Iwan den Schrecklichen „geisteskrank“, Katharina II. „eine Deutsche mit schamlosen und promiskuitiven Verhalten“, und Nikolaus II, zum Beispiel, einen „kleingeistigen Husarenoffizier“.

Der Staat ist das pure Böse

Die gesamte Geschichte der europäischen christlichen Nationen seit der Reformation empfindet Tolstoi als „eine ununterbrochene Liste der schrecklichsten, sinnlosesten und brutalsten Verbrechen, die von den Regierenden gegen das eigene Volk, gegen andere Völker und gegeneinander begangen wurden.“

Tolstoi sieht den Staat als Räuber, der dem Menschen, der auf seinem Land geboren ist, das Recht auf die Nutzung dieses Landes wegnimmt. Der Mensch ist gezwungen, sogar für das Recht, auf dem Land zu leben, zu bezahlen – mit Arbeit und Geld ist er gezwungen, Tribut zu zahlen, nur um zu leben. Diese Ausplünderung wird vom Staat als sein heiliges Recht geschützt.

Dem Kind wird von Geburt an Gewalt angetan, wenn es in eine etablierte Religion getauft oder in eine Schule gesteckt wird, in der ihm beigebracht wird, dass die Regierung seines Landes die beste ist – sei es „die Regierung des russischen Zaren oder des türkischen Sultans oder die Regierung Englands mit ihrer Chamberlain- und Kolonialpolitik oder die Regierung der nordamerikanischen Staaten mit ihrer Patronage der Konzerne und dem Imperialismus.“

So schließt Tolstoi: „Die Tätigkeit jeder Regierung ist eine Reihe von Verbrechen.“

Der Ausweg ist der Verzicht auf jede Macht

Ein Mensch, der sich in seinem Leben von den Idealen der Vernunft und des Guten leiten ließe, müsse logischerweise aller Gewalt abschwören, aufhören, sie zu unterstützen. Aber der Mensch verändert die Gewalt nur. „Wie ein Mann, der ein unnützes Gewicht trägt, <...> das er von seinem Rücken auf die Schultern, von den Schultern auf die Hüften und wieder auf den Rücken verlagert, ohne sich die Mühe zu machen, das einzig Notwendige zu tun – es fallen zu lassen.“

Tolstoi glaubt also, dass jede Staatlichkeit einfach verschwinden müsse. Aber wie soll dann die Ordnung aufrechterhalten werden? Der Schriftsteller sah einen Ausweg in der Religion, in moralischen Werten, im Glauben (ob an Christus oder Buddha), in der Menschlichkeit. Wenn der Mensch moralisch sei, müsse er nicht der Gewalt unterworfen werden, die üblicherweise von einem Staatssystem ausgeübt werde, so seine Ansicht.

„Die europäischen Nationen gingen vom niedrigsten zum höchsten Stand über, als sie das Christentum annahmen; ebenso die Araber und Türken, die Mohammedaner wurden, und die Völker Asiens, die den Buddhismus, Konfuzianismus oder Taoismus annahmen“, schreibt er.

Gleichzeitig ist sich Tolstoi bewusst, dass dies heute unmöglich ist – und erklärt, warum. Er sieht den Grund darin, dass bei den Völkern der christlichen Welt die Religion als Hauptantriebskraft der Menschen geschwächt, wenn nicht gar völlig abwesend“ ist.
Außerdem erscheint Tolstoi auch der moderne christliche Glaube als imaginär. Seit mehr als einem Jahrtausend hat er verschiedene „Absurditäten“ in sich aufgenommen und bietet keine Grundlage mehr für ein Verhalten „außer blindem Glauben und Gehorsam gegenüber denjenigen, die sich Kirche nennen“. Die moderne Institution der Kirche nimmt den Platz ein, den die wahre Religion einnehmen sollte, die den Menschen eine Erklärung für den Sinn des Lebens gibt.

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