Das Wachtangow-Theater auf dem Alten Arbat in Moskau. Foto: Lori/Legion Media
Mitten im Zentrum von Moskau, auf dem Alten Arbat, sind an einem hohen grauen Gebäude mit Säulen vor dem Eingang die Plakate gehisst. Nicht nur Stanislawski, die Legende des Theaters, dessen 150. Geburtstag im Januar Anlass zum Feiern gab, ist dieses Jahr Zentrum der Aufmerksamkeit - das Wachtangow-Theater begeht heute gleich mehrere Jubiläen: Vor 130 Jahren, am 13. Februar 1883 wurde Jewgenij Wachtangow geboren, einer der fünf Sterne im Gestirn der russischen Theaterreformer. 1913 begann er in einem kleinen Studio zu proben, aus dem mit den Jahren das Theater hervorging, das bis heute seinen Namen trägt.
Nach dem Willen seines Vaters sollte Jewgeni Wachtangow eigentlich Geschäftsmann werden und die väterliche Tabakfabrik in Wladikawkas am Kaukasus weiterführen. Aber nichts begeisterte den Studenten mit den großen Augen und dunklen Locken an der Moskauer Universität so sehr wie das Theaterspielen. Mathe, Physik, später Jura, kamen da nicht gegen an. Und als er nach dem Studium # nach Hause kam, dort aber gleich weiter inszenierte, seine Jugendfreundin heiratete und die Bretter, die die Welt bedeuten, der schnöden Produktion von Tabak vorzog, wurde er vom erbosten Vater enterbt und verstoßen.
Jewgenij kehrte nach Moskau zurück, absolvierte die Dramakurse am Moskauer Künstlerischen Theater (MChAT) und wurde 1911 in die berühmte Truppe unter der Leitung von Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko aufgenommen. Er freundet sich mit Michail Tschechow an, dem genialen Schauspieler und Neffen von Anton Tschechow, sie werden ein starkes und wegen ihrer Improvisationen von Kollegen geradezu gefürchtetes Gespann.
Jewgeni Wachtangow. Foto: Photoshot/Vostock-Photo |
Bald vertraut Stanislawski seinem Lieblingsschüler die Arbeit mit Kollegen und die Ausbildung von Studenten nach der neuen Methode an, der Name Wachtangow wird rasch nicht nur zum Markenzeichen des „Stanislawski-Systems“ und für die experimentellen Ableger vom Künstlerischen Theater (darunter das sog. Mansurow-Studio, aus dem später das Wachtangow-Theater wurde), sondern auch des jüdischen „Habimah“ und vieler anderer Studios. Der 30-jährige Lehrer provoziert seine Schüler damit, dass er zur ersten Stunde in gestärktem Hemd und Smoking erscheint, sie halten ihn für einen fürchterlichen Snob. Bald aber verstehen sie seine Botschaft – Theater, Kunst, kann man nur schaffen, wenn man sich aus dem üblichen, alltäglichen Trott ausklinkt; Wachtangow fordert, dass auf der Bühne jeder Auftritt, jede Vorstellung zum Fest gerät.
Bald revoltiert der junge Theaterlehrer und Regisseur gegen die Traditionen, die sich am Künstlerischen Theater in dieser naturalistischen Phase inzwischen eingebürgert haben, er stürzt sich in die Suche nach neuen szenischen Ausdrucksmitteln, abstrakteren Formen. Die Wirkung von Theater auf das Publikum lässt ihm keine Ruhe. Er experimentiert mit Farben, Licht, Objekten, choreographiert die Auftritte, er verstärkt das spielerische Element auf der Bühne und macht es sichtbar.
Wie zum Trotz gegen die politischen Unruhen im Land sprießen in Moskau seit 1912 experimentelle Studios und Laientheater nur so aus dem Boden. Es sind schwere Jahre vor, während und nach dem I. Weltkrieg, nach der russischen Revolution, für alle. Der Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten ist noch nicht beendet, in Moskau ist die Versorgung zusammen gebrochen, 1919 herrscht bittere Not und blanker Hunger. Der kranke Wachtangow unterrichtet in dieser Zeit, überall, wohin er gerufen wird, als ahne er, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. „Und diese ganze kolossale Bürde“, schreibt er, „schleppe ich, halb zusammengekrümmt, niedergeworfen durch meine Krankheit, und ich habe kein Recht, auch nur eine dieser Sachen hinzuwerfen… Ich muss es schaffen, das weiterzugeben, was ich erworben habe.“
Die letzten zwei Jahre seines Lebens sind nicht nur geprägt von Krankenhaus, Operationen und furchtbaren Schmerzen, die vom Magenkrebs verursacht werden. Das künstlerische Leben von Wachtangow und seiner Mitarbeiter blüht im Gegensatz dazu weiter auf, wird überaus fruchtbar. Legendär wird seine Inszenierung von Carlo Gozzis Prinzessin Turandot. In der Nacht auf den 24. Februar 1922 findet die letzte Probe mit Wachtangow statt. Um 4 Uhr morgens, als alle dem Umfallen nahe sind, ordnet der todkranke Regisseur einen Durchlauf an.
Es ist das einzige Mal, dass er seine Schöpfung im Ganzen sieht, von der alle einhellig begeistert sind, die Maestros des Theaters ebenso wie Kollegen und Kontrahenten, Arbeiter, Studenten, das Publikum. Ein Parfüm wird nach Prinz Kalaf benannt und ein Walzer aus der Inszenierung wird Mode. Die Inszenierung geht in die Weltgeschichte des Theaters ein.
Wachtangow stirbt zwei Monate später. Der Meisterschüler von Stanislawski, der sich auf einer bestimmten Etappe an den gegenläufigen Ideen von Meyerhold begeisterte, schuf am Ende seine eigene Methode, die er „Phantastischen Realismus“ nannte und die den Stil seines Theaters prägte. Ob bis heute, ist inzwischen umstritten.
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