„Entfernte Nähe“ setzt neue Grenzen

Das Theaterstück "Entfernte Nähe" gibt gehandicapten Künstlerinnen und Künstlern eine Chance, ihren Platz im kulturellen Leben Russlands einzunehmen. Foto: Iwan Wodopyanow / Goethe Institut

Das Theaterstück "Entfernte Nähe" gibt gehandicapten Künstlerinnen und Künstlern eine Chance, ihren Platz im kulturellen Leben Russlands einzunehmen. Foto: Iwan Wodopyanow / Goethe Institut

Das Theaterstück „Entfernte Nähe“ wagt sich auf vielseitige Weise an ein Thema, dessen Enttabuisierung in Russland eben erst begonnen hat.

„Warum lebe ich?" – wirft eine junge Frau in einem weißen Kleid in den Zuschauerraum des Moskauer Theaters Zentrum für 
Dramaturgie und Regie. Auf den Rängen herrscht das, was auf Russisch „Anschlag" heißt: Das vom deutschen Regisseur Gerd Hartmann und dem Leiter des Theaterprojekts „Krug II" Andrej Afonin konzipierte Stück ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Einige haben nur noch auf den Stufen einen Platz gefunden. Der für Moskauer Verhältnisse regelrecht unheimlich freundlichen Stimmung im Saal tut das keinerlei Abbruch.

Ein antwortloses Leben

 Premiere war bereits Ende November 2012, nun ist „Entfernte Nähe" in den regulären Spielplan aufgenommen. Erstmals wirken die Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem 1995 gegründeten Theaterstudio „Krug" an einer professionellen Produktion in einem „gewöhnlichen" Moskauer Theater mit – ohne Behindertenbonus und doppelten Boden. Ein bahnbrechender Erfolg für das gemischte Ensemble, ein Plädoyer für Gleichstellung.

„Ich kenne den Sinn meines Lebens nicht. Das scheint vielleicht seltsam, aber es ist so. Ich weiß nicht die Antwort: Aber ich lebe weiter ... mein antwortloses Leben." Marina Koslowa, in deren Bühnenkostüm eine Art Kissen eingenäht ist, das die Figur der Schauspielerin etwas asymmetrisch, verzerrt wirken lässt, verleiht diesen Worten eine fesselnde Eindringlichkeit.

Von wem die Worte stammen, dürfen die Zuschauer jedoch nicht 
erfahren. Es handelt sich um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, auf deren Texte die langjährigen Freunde Hartmann und Afonin im Laufe der achtmonatigen Arbeit an dem Stück im Internet gestoßen waren. Aus Angst vor Spott wollen die Autoren ihre Anonymität wahren, erklärt die „lenkende Kraft" hinter Choreografie, Inszenierung, Idee und Szenario vor Beginn der Aufführung.

Ein Hinweis darauf, dass noch viel zu tun ist, bis gehandicapte Künstlerinnen und Künstler ihren Platz im kulturellen Leben Russlands einnehmen können – in einem Land, in dem integratives Theater bisher nicht als Budgetposten aufschien und in dem die Sprache erst seit Kurzem auch andere Wörter als „Invalide" kennt.

Tanz mit den „OWZ-Kids"

Die politisch korrekten Wendungen sind noch so ungewohnt, dass selbst der Initiator des Projekts, der Leiter der kulturellen Programmarbeit am Goethe-Institut Wolf Iro, in seinem russischen Videokommentar, der auf der Website des Russland-Deutschland-Jahres zu sehen ist, die geläufigen Formulierungen verwendet. In den Presseberichten zu dem Spektakel geben sich hingegen „Kids 
mit Besonderheiten in der Entwicklung" und „Leute mit eingeschränkten gesundheitlichen Möglichkeiten" (die russische Abkürzung lautet OWZ) die Klinke in die Hand.


Gerd Hartmann und Wolf Iro (links), Andrej Afonin (rechts) Foto: Goethe Institut.

Das Stück selbst hat keine lineare Handlung. Die Prosa lässt Personen entstehen, denen die Nähe zur Gesellschaft, in der sie leben, bis zur Unmöglichkeit erschwert ist. Alternierend zu den Textpassagen winden sich die Schauspieler im Tanz umeinander – ein Paar geht dabei wie Stiere Stirn an Stirn aufeinander los. Der papieren wirkende Alexander Dowgan wogt wie ein Blatt im Wind um seine Tanzpartnerin. Auch Swetlana Jewseewa und Jewgenija Skokowa strahlen in ihren gemeinsamen Bewegungen aus, was der Titel verspricht: Nähe – aber zärtliche, statt entfernte.

Die beiden Frauen stellen sich an den Herd und beginnen, ein Süppchen zu kochen. „Mutter stand auf der Treppe", flüstert die eine der anderen zu. „Onkel Kolja kam nicht, um das nasse Gras zu schneiden", antwortet die andere aufgeregt. „Am Himmel brennt ein roter Mond."

Neue Grenzen des Seins

 Die Texte sprechen laut Afonin von der „Grenze, wo ein Mensch sagen kann, dass das seine besondere Weltsicht ist" und davon, dass jemand anderes ihn dafür einfach als krank abstempelt. „Hinter all dem kann man etwas Ungewöhnliches sehen, das uns nahe ist. Daher auch der Titel", so Afonin. Er ist überzeugt, dass „Menschen, die an der Peripherie der Gesellschaft stehen", die Dinge anders sehen.

Grenzen zu verwischen, war zweifellos mit ein Ziel der Theaterarbeit. Nicht nur, dass sich das „Who-is-who" auf der Bühne nicht eindeutig feststellen lässt – dieser unwillkürliche forschend-suchende Zuschauerblick selbst, mit dem man an diesem Abend nun mal gar nicht so recht weiterkommen will, regt zum Nachdenken an.

Nach und nach übertüncht der Essensduft, der sich im Saal ausbreitet, die ungute Angewohnheit, physische Unterschiede automatisch zu bemerken. Zumindest jetzt und hier spielen die Kategorien behindert/nichtbehindert gar keine Rolle. Während die acht Darstellerinnen und Darsteller am Ende des Stücks eng im Kreis zusammensitzen und Suppe löffeln, schluckt bestimmt so mancher im Publikum und würde sich am liebsten dazwischenzwängen – angesteckt von einem unerklärbaren Bedürfnis nach Nähe, ausgelöst von der fantastischen Darbietung auf der Bühne.

Auch aus einiger Entfernung, auf dem Heimweg und noch lange später, bleibt von „Entfernte Nähe" dieser Nachgeschmack, und man möchte am liebsten noch einmal in Applaus ausbrechen für diese talentierte Gruppe, die grandios Theater spielt – in einer Stadt, in der Behinderte üblicherweise unsichtbar sind.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.

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