Moskauer Bibliotheken: Ein neues soziales Miteinander

Fünf Moskauer Bibliotheken präsentieren sich im Herbst in einem neuen Gewand – als moderne Informationszentren und Diskussionsclubs. Foto: ITAR-TASS

Fünf Moskauer Bibliotheken präsentieren sich im Herbst in einem neuen Gewand – als moderne Informationszentren und Diskussionsclubs. Foto: ITAR-TASS

Die erste Etappe der Reform der Moskauer Bibliotheken ist fast abgeschlossen. Fünf von ihnen präsentieren sich im Herbst in einem neuen Gewand – als moderne Informationszentren und Klubs, in denen man nicht nur über Bücher, sondern auch über Politik ins Gespräch kommen kann.

Das Projekt startete mit fünf gewöhnlichen Bezirksbibliotheken. Sie werden sich äußerlich in mancher Hinsicht verändern: Von den Fenstern verschwinden Gitter und schwere, schnell deprimierend wirkende Rollläden. Die Organisation des Raums soll allen Praktiken des Lesens gerecht werden und wird darüber hinaus auch andere Bedürfnisse berücksichtigen. So entstehen Zonen für das Lesen, für Pausen, für Konferenzen, für Lesungen sowie ein Ausstellungsbereich. Der ideale Bibliotheksbesucher, auf den das Reformprojekt zugeschnitten ist, kommt nicht nur zum Lesen, sondern um dort andere Leute zu treffen, Vorträge anzuhören, sich beraten zu lassen und über seine Probleme zu reden. Aber schließlich auch zum Arbeiten.

Dementsprechend wird sich auch die Struktur der Nutzergruppen ändern. Bislang bilden Kinder im Schulalter und Rentner die Mehrheit der Bibliotheksbesucher. Das liegt vor allem daran, dass die Bibliotheken in der Regel von 11 bis 17 Uhr geöffnet sind. Berufstätige Menschen, die zeitlich meist nicht flexibel sind, haben kaum Chancen auf einen Besuch in der Bibliothek. Verlängert man die Öffnungszeiten, kann man auch diesen Teil der Bevölkerung ansprechen: neue potenzielle Nutzer mittleren Alters. So lautet zumindest das Kalkül von Boris Kuprijanow, einem der Entwickler und Initiatoren der Reform und stellvertretender Direktor des Moskauer Bibliothekenzentrums.

„Unser Grundgedanke ist maximale Offenheit“, erläutert Kuprijanow. „Wir werden den Großteil unserer Bestände allgemein zugänglich machen. Dafür arbeiten wir mit Technologien, die eine automatisierte Ausleihverbuchung ermöglichen.“ So könne der Leser ein Buch auswählen, es von einem speziellen Gerät einlesen lassen und mitnehmen. Die Rückgabe sei in Geschäften oder an Metrostationen zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit möglich. „Auch der Ausbau des Bibliothekenbestands wird neu gestaltet“, sagt Kuprijanow. So sollen mehr Neuerscheinungen verfügbar gemacht werden, und zwar „wesentlich früher als bisher“.

Auch für Nicht-Moskauer soll die Möglichkeit der Bibliotheksnutzung künftig eingeräumt werden. Die Stadtbewohner, die keine amtliche Meldebescheinigung für Moskau haben, können sich in der Regel in keiner Bezirksbibliothek anmelden. „Wir müssen es also diesen Menschen erleichtern, unsere Bibliothek zu nutzen. Natürlich können wir keinen Besuchern Bücher mit nach Hause geben, die nicht in Moskau gemeldet sind. Aber es spricht überhaupt nichts dagegen, ihnen im Lesesaal unsere Bestände zur Verfügung zu stellen“, erklärt Kuprijanow.

Doch die größte Herausforderung werde es sein, den Status des Bibliothekars zu ändern: „Aus einem Mitarbeiter, der für die Entgegennahme und Herausgabe von Büchern zuständig ist, muss ein

Lotse durch die Welt der Informationen werden.“ In dieser Welt könne man Kuprijanow zufolge leicht die Orientierung verlieren – ein Navigationssystem durch den russischen Büchermarkt gebe es aber im Grunde nicht. Selbst Buchrezensionen und Buchhandlungen bieten da keine Lösung: „Rezensenten sind meiner Meinung nach schlechte Navigatoren. Und Buchhandelsketten richten sich nach den Interessen der großen Verlage, das heißt, sie bieten fast ausschließlich kommerzielle Literatur an. Die Bibliotheken dagegen können den Menschen wirkliche Wahlmöglichkeiten eröffnen.“

Skeptiker glauben, dass die Tage der Bibliotheken gezählt seien – zumindest in ihrer bisherigen Form. Das Lesen auf Papier werde unaufhaltsam zugunsten elektronischer Lektüre zurückgehen. Warum sollte ein Mensch, der mit seinen smarten Geräten überall ins Internet kommt, noch spezielle Orte aufsuchen, um an Informationen zu gelangen? Wozu braucht er überhaupt noch Bücher?

„Dieses Szenario ist unrealistisch“, wendet Kuprijanow ein. „Das Verlegen von Büchern ändert sich, es finden Umstrukturierungsprozesse statt, aber kein quantitativer Rückgang.“ Er führt aus: „Natürlich braucht man sich kein Taschenbuch anzuschaffen, wenn man sich für den gleichen Betrag das Buch auf den Reader laden kann. Aber das ist ein Problem der Trivialliteratur, das betrifft nur Literatur, die für uns uninteressant ist.“

E-Books findet der Bibliothekar eher nützlich: „Die gesamte Massenliteratur gibt es im Netz, und das ist gut so. Es müssen keine Bäume abgeholzt werden, damit die Leute es 40 Metrostationen lang vermeiden können, ihrem Gegenüber in die Augen zu schauen. Dafür reicht eine elektronische Version vollkommen.“ Einige Segmente der Literatur gebe es auch überhaupt nicht in elektronischer Form, zum Beispiel bestimmte wissenschaftliche Bücher. Der Gegensatz „digital“ vs. „Papier“ sei dem Bibliothekar zufolge lediglich konstruiert – beide Seiten haben ihre Berechtigung. Zudem könne mit Readern, die den Lesern vonseiten der Bibliothek zur Verfügung gestellt werden,  Wege zu einer legalen Lektüre eröffnet werden.

Die Bibliothek als Zentrum des öffentlichen Lebens

Werbung für das Lesen und die Verbesserung der Leseangebote sind wichtige, aber nicht die einzigen Ziele der Reform. Kuprijanow möchte die Bibliothek in ein Zentrum des öffentlichen Lebens im Bezirk verwandeln. Wo sonst, wenn nicht hier, könne man sich über aktuelle Fragen informieren und sie auch diskutieren? „Ein Bürgerklub lässt sich nicht von oben ins Leben rufen“, so Kuprijanow. „Aber man kann Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen sich die Bibliothek als ihren eigenen Raum aneignen.“ Für Kuprijanow ist die Bibliothek ein wunderbarer Ort zum Zusammenkommen, Diskutieren, Plaudern und für Gespräche darüber, was im eigenen Land und in der Welt passiert.

„In Moskau gibt es 480 Bezirksbibliotheken, das ist sehr viel. Und dieser gesamte Raum gehört uns allen. Wir möchten, dass die Moskauer begreifen: Das ist ihre Straße, ihr Park, ihre Bibliothek, ihr Museum, ihr Theater.“ Doch dass Kuprijanow inbesondere den Klub, das Museum und mehr noch die Bibliothek als mögliche Lebenszentren ansieht, hat mit der Entwicklung der Städte zu tun: Die Struktur der Städte stammt Kuprijanow

zufolge aus einer industriellen Vergangenheit, in der man sein Leben um eine Fabrik herum organisierte. „Die Welt aber hat sich verändert und mit ihr die Stadt.“ Heute gibt es keine Fabriken mehr und um einen Bürokomplex herum dürfe man sein Leben nicht organisieren.

Kuprijanow hofft auf ein stärkeres Miteinander, wie es früher einmal der Fall gewesen war: „Das sowjetische System, in dem viele von uns ihr halbes Leben gelebt haben, hatte ein sehr soziales Gesicht. Die Menschen spielten Domino auf der Straße, alte Leute saßen vor dem Haus auf einer Bank. Die Leute warteten in der Schlange und unterhielten sich dabei, gingen auf Sportplätze und kamen miteinander ins Gespräch. Noch vor 20 Jahren grüßten Nachbarn einander, kannten ihre Gesichter und Namen. Heute grüßt man sich weder im Hauseingang noch im Treppenhaus. Wir aber möchten, dass die Menschen sich wieder begrüßen und miteinander reden – die Leute haben genug von der Isolation.“

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