Foto: ITAR-TASS
Die Ergebnisse der Stiftung werden auch von anderen Studien bestätigt. „Wir beobachten eine ähnliche Tendenz", so Jurij Pulja, Leiter der Abteilung für periodisch erscheinende Printmedien, Bücher und Polygrafie der Staatsagentur für Pressewesen und Massenkommunikation. „Nach den Zahlen des Marktforschungsunternehmens TNS Russia beträgt der allgemeine Medienkonsum ab 16 Jahren etwa acht Stunden pro Tag, der Leseanteil an einem Buch macht nur neun Minuten aus."
Misst man den Erfolg eines Buchtitels an seiner Auflage, sind auch hier die Zahlen rückläufig. Laut einer von der russischen Bücherkammer vorgelegten Statistik sank im Jahr 2012 die durchschnittliche Auflagenhöhe bei Neuerscheinungen um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die russischen und insbesondere die Moskauer Buchhandlungen reagieren flexibel auf die veränderte Situation. In den großen Städten gibt es immer weniger Geschäfte, die nur Bücher anbieten. Buchhandlungen sind heute eher Klubs, Cafés oder Veranstaltungsorte.
Vielerorts wurden sogar mobile Projekte ins Leben gerufen. Ein Beispiel ist der Kinderbuchbus „Bumper": „Wir warten nicht darauf, dass die Leute kommen und Bücher kaufen, wir suchen die besten und interessantesten aus, um sie zu den Lesern zu bringen", lautet das Motto des mobilen Buchladens, der den ganzen Sommer durch die russische Provinz rollt und den Kindern die besten Neuerscheinungen nahebringt.
Immer populärer wird auch das Bookcrossing. Regale für den Büchertausch gibt es in vielen Buchläden, Klubs und Cafés. Gegenüber den rückläufigen Zahlen im Buchhandel nimmt der Onlinehandel zu. „Der Onlinehandel mit gedruckten Büchern ist ein weiterhin wachsender Markt. Der Umsatz aus diesem Segment ist bei uns 2012 um 27 Prozent gestiegen", sagt Alexej
Kusmenko, Leiter der Buchabteilung des Onlinehändlers OZON.ru. „Das deutlichste Wachstum jedoch", ergänzt Kusmenko, „ist interessanterweise nicht in Moskau und Petersburg zu beobachten, sondern in den Regionen. Vor allem dort kämpft man um den Kunden.
Die Berichte über das schwindende Interesse der Russen am Lesen sind auch angesichts des Images der UdSSR als einer Nation von Viellesern aufsehenerregend. Spezielle Bücher waren Mangelware, man musste sie sich „beschaffen" wie modische Kleidung oder seltene Delikatessen.
Sowjetische Bücherwürmer standen Schlange nach Abonnements. Für den Erwerb eines Klassikers, zum Beispiel Alexandre Dumas, konnte man einen Gutschein bekommen, wenn man 20 Kilogramm Altpapier ablieferte.
Zu späteren sowjetischen Zeiten kam der Kommissionsbuchhandel auf, die dort angebotene Auswahl an Büchern war allerdings bescheiden und teuer. Erst in den 1990er-Jahren änderte sich die Situation allmählich.
Setzt man den Umsatz des Buchhandels ins Verhältnis zum Leser von heute, kann man zwei Trends ausmachen. Zum einen büßte in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich das gedruckte Buch seinen Status
als wichtigster Träger von Textinformation ein. Vieles wird heute auf dem Computer-Bildschirm, auf Smartphones, Tablets oder E-Readern gelesen oder als Audiobuch im Auto gehört.
Zum anderen haben Bücher in Russland einen klaren Prestigeverlust erlitten. Ein seltenes und hart erkämpftes Buch wird das Prestige seines Besitzers nicht mehr steigern, wie das zu sowjetischen Zeiten noch der Fall war. Eine Umfrage des WZIOM ergab, dass zwar 83 Prozent der Russen über eine private Bibliothek verfügen, bei 46 Prozent umfasst sie aber nicht mehr als 100 Bände.
Bezeichnenderweise sind in Fragebögen für Schüler, in denen Eltern unter anderem gebeten werden, die Titel der zu Hause verfügbaren Kinderbücher anzugeben, für die Antwort nur drei Zeilen vorgesehen. Und das Lesen fängt bekanntlich in der Kinderstube an.
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