„Die Pipeline“ oder Der Unterschied zwischen Ost und West

Der Regisseur Witalij Manskij: Die Besonderheit Russlands besteht darin, dass die europäischen Werte hier nicht als erstrebenswert angesehen werden.Foto: Pressebild

Der Regisseur Witalij Manskij: Die Besonderheit Russlands besteht darin, dass die europäischen Werte hier nicht als erstrebenswert angesehen werden.Foto: Pressebild

Der Dokumentarfilm „Die Pipeline“ (2013) des bekannten Regisseurs Witalij Manskij zeigt eindrucksvoll das von Gegensätzen geprägte Leben der Menschen, die an der Gaspipeline zwischen Westsibirien und Westeuropa leben.

Der Dokumentarfilm „Die Pipeline" (2013) des bekannten russischen Filmemachers Witalij Manskij hat auf dem Leipziger Festival des Dokumentarfilms den Preis für den besten osteuropäischen Film erhalten. Schon in den vergangenen Monaten hat der Film mehrere begehrte Preise erhalten. Der Dokumentarfilm erzählt von den Menschen, die entlang der gigantischen Gaspipeline leben, die aus Westsibirien nach Westeuropa führt. Vor genau 30 Jahren wurde das sowjetisch-deutsche Abkommen „Rohre gegen Gas" geschlossen und das sowjetische Gas begann, in den Westen zu fließen. Es fließt bis heute.

104 Tage lang folgte das Filmteam der Pipeline von Anfang bis Ende, von Urengoi bis Köln. Es gab viel Kurioses zu sehen, aber noch mehr Trauriges. Die Szenen folgen aufeinander, verbunden durch das eine stählerne Rohr.

 

Die Menschen entlang der Pipeline leben in verschiedenen Welten

Im Nordural geht ein Priester die Strecke entlang. Er bietet an, ein Neugeborenes zu taufen, aber man lehnt ab. Die Familie ist nicht von der Existenz Gottes überzeugt. Was brauchen diese Menschen zum Glücklichsein? Die Ansprüche sind nicht hoch: ein Geschäft in der Nähe und Strom zu Hause. Aber es gibt weder das eine noch das andere.

Und am anderen Ende der Pipeline, in Köln, sind die Schaufenster brechend voll von Kleidung, bunten Artikeln und Luxuswaren, es sieht aus wie ein ewig andauernder Karneval. Die Straßen und Häuser sind von Leuchtreklame hell erstrahlt. Aber auch dort verspürt man wenig Glück, so seltsam das scheinen mag. Es herrscht ein doch eher alltäglicher, nüchterner Frohsinn. Auch in Köln gibt es gläserne Augen, die von Unwissen und Unkenntnis erfüllt sind. In Sibirien sagt eine alte Großmutter: „Die Nacht ist überstanden und der Tod ist näher." Man hat das Gefühl, dass es auch in Köln so ist, trotz des ganzen Überflusses einer westeuropäischen Stadt.

„Ich denke, der westliche Zuschauer ist enttäuscht, dass es im Film keine Bewunderung für den westlichen Lebensstil gibt", sagt Manskij. „Trotzdem schätzen die Kritiker den Film. Die westlichen Zuschauer bewerten sie ja auch nach professionellen, handwerklichen Kriterien. Ich höre die Leute mehr über die visuelle Lösung und die Regiearbeit reden. Die Emotionsspanne der russischen Zuschauer reicht von völliger Ablehnung bis hin zur Bewunderung, Tränen des Mitleids zu den Protagonisten und Verbitterung. Im Westen fällt die Perzeption des Films eher kühler aus."

Teilweise denkt man, dass der Film nicht 2013, sondern 1983 gedreht wurde. Die seit der Sowjetzeit immer gleichen Beamten geben den Menschen die vage Versprechung, dass das Gas auch sie irgendwann einmal wärmen werde. Ein „Ewiges Feuer" auf dem Platz einer Provinzstadt soll dieses Versprechen dokumentieren: Wenn man versucht, es mit dem Feuerzeug anzuzünden, passiert nichts, es gibt kein Gas. Statt eines Anteils vom Rohstoff für den Westen findet man hier Alkoholismus, Armut

und eine erstaunliche Demut und Starre vor. Das Leben scheint monoton und zerbrechlich zu sein, es zieht und zieht sich aber wie eine Endlosschleife hin.

Doch je weiter die Kamera nach Westen fährt, desto gepflegter werden die Landstriche und Wohnungen, desto besser genährt die Kühe und Ziegen. Und auch die Menschen werden ruhiger und selbstbewusster.

„Die Besonderheit Russlands besteht darin", kommentiert der Regisseur, „dass die europäischen Werte hier nicht als erstrebenswert angesehen werden. Eine der schlimmsten Szenen des Films ist eine Beerdigung in der Region Wologda. Die Männer müssen mit Äxten die gefrorene Erde aufbrechen, um den Sarg in sie hinabzulassen. Die Europäer betrachten das eher mit Schrecken, aber für uns ist das völlig normal. Mehr noch, vielleicht ist das Hacken mit den Äxten auch die einzig richtige Möglichkeit, sein Beileid und Mitgefühl für den Verstorbenen zu äußern."

 

Jeder ist glücklich auf seine Weise

Die Beerdigung an sich ist für Manskij Symbol für die unterschiedliche Wesensart der Europäer und Russen, wie er erläutert: „Auch die Russen schauen Begräbnisse in Europa mit Erstaunen an, und es gibt durchaus etwas zu staunen: Einen Menschen aus Überlegungen der Wirtschaftlichkeit und des Umweltschutzes in einem Pappkarton zu begraben, ist für einen Russen unvorstellbar. Menschen sparen für die Beerdigung ihr Leben lang. Nicht wie in Europa, wo man mit Lackschuhen ins Krematorium kommt, sich fünf Minuten lang ‚Ave Maria' anhört und sich nicht einmal vom Verstorbenen verabschiedet, weil der geschlossene Sarg auf einer Rollplattform hineingefahren und sofort wieder herausgefahren wird. In Deutschland kann man es sich nicht vorstellen, vor dem für immer verlorenen Menschen zu weinen. Für uns Russen ist das nicht hinnehmbar."

Der Dokumentarfilmer resümiert: „In der Geburt, im Tod, im ganzen Lebenszyklus sind wir verschieden. Die Pipeline verbindet uns nicht, wie es die Politiker und Wirtschaftsexperten gerne hätten, sie bringt uns eher weiter auseinander."

Viele Kritiker und Zuschauer fassen „Die Pipeline" als eine überspitzte publizistische Aussage auf – und sogar als Vorwurf an das bestehende Regierungssystem in Russland. In der Tat: Durch die Taiga fließt eine Goldader, die Milliardengewinne verspricht, und gleich nebenan hungern die Menschen. Wer ist schuld an dieser Diskrepanz?

Manskij sucht keine Schuldigen. Und er sieht seine Protagonisten nicht als Opfer. Das Paradox besteht darin, dass es in seinem Film keine

Unglücklichen gibt. Und keiner will irgendetwas ändern, allen passt alles. „Um irgendetwas zu ändern", sagt er, „müsste es einen Wunsch geben. Und der sollte nicht von oben kommen, sondern von unten. Es gibt aber keinen Wunsch. Hätte es ihn gegeben, hätte sich schon vor dreihundert Jahren etwas geändert. Russland will sich nicht ändern. Für einen Europäer sieht die Situation hoffnungslos aus. Für einen Russen, der europäische Ansichten hat, auch. Aber für den Rest gibt es hier kein Problem. Der Russe leidet nicht, sein Leben ist beschränkt. Es gibt so den Spruch, man würde ‚sein Leben verbrennen'. Wir verbrennen alle unsere Leben. Manche in Russland, andere in Europa. Nur auf unterschiedliche Art. Und jeder sieht in den Augen des jeweils anderen unglücklich aus. Aber in diesem Unglück liegt auch unser Glück."

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