Wie die russische Literatur näher an Deutschland rückte

Die russische Literatur nimmt in Deutschland einen besonderen Platz ein, wie einmal mehr der Kieler Slawist Friedrich Hübner mit seiner umfänglichen Bibliografie der übersetzten russischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu belegen vermag. In handliche zehn Kapitel geteilt, verzeichnet die Bibliografie insgesamt 3220 Übersetzungen.

Die Kapitel enthalten jeweils ein bibliografisches Verzeichnis plus Kommentar und umfassen historisch unterschiedliche Zeiträume. Mit den Kommentaren zu den einzelnen Zeitabschnitten spürt Hübner den kontextuellen Bedingungen nach, die zu einer Übersetzung und anschließenden Publikation des jeweils gewählten Literatursegments geführt haben. Die Bibliografie endet mit der deutschen Einheit, dem letzten großen Einschnitt in der deutschen Geschichte. 1990 klärt sich auch das deutsch-russische Verhältnis nach den politischen „Wechselbädern" des Jahrhunderts. Und es beginnt etwas Neues.

Nach 1945 wurde die russische Literatur durch die sowjetische Besatzungsmacht und die späteren „Freunde" nämlich funktionalisiert, zum Teil im Sinne der in der UdSSR wirkenden politischen Agitation, zum Teil aber auch, um die DDR, womöglich perspektivisch den ganzen deutschen Sprachraum, „in das wärmende Tuch der sowjetischen Hoch- und Alltagskultur einzuhüllen" (S. 606). Hier spielten nicht nur die russische Klassik (z.B. Puschkin, Lermontow, Turgenjew, Lew Tolstoi) oder ideologisch neutrale Naturprosa (z.B. 
Prischwin, Kuprin) eine Rolle, sondern später auch zunehmend die lange verfemte Moderne: Der Zweck heiligte sozusagen die Mittel. Auf jeden Fall konnte davon in der DDR trotzdem nur das übersetzt werden, was in der Sowjetunion erschienen war, etwa Mandelstam oder Achmatowa, die laut Hübner eine „Alibifunktion" einnahmen (S. 429).

Im Westen wird man auf die russische Gegenwartsliteratur erst durch die wirklichen oder auch nur vermeintlichen Dissidenten aufmerksam, und zwar nach dem Skandal um den Nobelpreis für Boris Pasternak (1958) und seinen Roman „Doktor Schiwago". Es ergibt sich die auch für andere „Ostblock"-Literaturen typische Spiegelbildlichkeit der Rezeption Ost versus West: Die Literatur wurde im Westen weniger als künstlerisches, denn als politisches Ereignis gelesen. Hübner diagnostiziert die „Bestätigung der Stereotypen über einen noch immer fernen Nachbarn" (S. 605).

Überhaupt wird die Masse der Werke nach 1945 übersetzt. Waren es bis dahin 700 Titel, folgen die restlichen 2520 nach dem Zweiten Weltkrieg.

Diese Relation spiegelt die Rezeptionsverhältnisse und den zugrunde liegenden historischen Prozess. Russland bzw. die Sowjetunion rückte im deutschen oder gar europäischen Bewusstsein sichtbar weiter vor, so wie in einem ersten Schritt nach den Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts. Hübners Werk wird sicher zur Standardauskunft für deutsche Übersetzungen aus der russischen Literatur zwischen 1900 und 1990. Es lässt sich zudem wie ein Kriminalroman über spannende 90 Jahre 
Rezeption lesen. Hübner behandelt den gesamtdeutschen Aspekt an der Geschichte der Übersetzungen zwischen 1945 und 1990 vorurteilsfrei. Damit ist seine Publikation auch ein Beitrag zum innerdeutschen Frieden.

Ulrich Steltner ist pensionierter Professor für Slawistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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