Die heidnischen Vorfahren der Russen begangen das „Koljada“-Fest, die Feier der Wintersonnenwende. Gefeiert wurde es von den alten Slawen vom 25. Dezember bis zum 6. Januar, als hätte man gespürt, dass exakt zu dieser Zeit Jahrhunderte später das Neujahrsfest sein würde. Das Koljada-Fest dauerte zwölf Tage, das Ritual wurde von zwölf Priestern geleitet und das Wasser für die Wahrsagungen wurde aus zwölf Brunnen geholt. An diesem Fest drehte sich alles um die Zahl Zwölf.
Nach der Christianisierung der Rus durch den Großfürsten Wladimir im Jahr 988 begann man, das neue Jahr nach dem julianischen Kalender zu feiern – allerdings am 1. März. Wenn man es recht bedenkt, leuchtet das Datum ein: Der Schnee schmilzt, Blumen sprießen, das Leben erwacht. Ungefähr gegen Ende des 14. Jahrhunderts – hier streiten sich die Wissenschaftler – verlegte die Russisch-Orthodoxe Kirche die Neujahrsfeier vom März auf den September. Viele heidnische Traditionen verlagerten sich langsam ins Christentum, und viele von ihnen gibt es noch heute.
Neujahr in seiner heutigen Form feiert man seit 1699. Damals beschloss Zar Peter I., dass die Festtage zur selben Zeit wie in Europa gefeiert werden sollten. In dem kaiserlichen Befehl ordnete Peter I. auch die Ausgestaltung des Neujahrfestes an: „Einige Verzierung herrichten aus Bäumen und Zweigen der Kiefer, Fichte und Wacholder." Außerdem befahl er den Bojaren, dem Adel und den Händlern, aus Musketen und kleinen Kanonen zu schießen und Raketen abzufeuern. Die weniger gut betuchten Höfe sollten zu mehreren Reisig und Stroh zusammenschmeißen, Fässer mit Teer an- und Festlagerfeuer entzünden.
Doch während Peter sein Neujahr wie in Europa einrichtete, ging dieses vom julianischen zum gregorianischen Kalender über. Damit hinkte Russland trotz der Anpassung gut zwei Wochen hinterher. Seinem Schicksal ergab es sich erst 1919, als es ebenfalls zum gregorianischen Kalender wechselte. Mit diesem Schritt verschob sich das Datum des Neujahrsfests noch einmal, und so kam es, dass das Neujahr in Russland heute zweimal im Jahr gefeiert wird: Zuerst nach dem neuen Kalender und dann 13 Tage später nach dem alten.
Aber nicht nur Tannenbäume werden geschmückt, sondern auch Straßenbahnen, Straßen und Häuser
Ramil Sitdikow /SputnikWie es in Russland zu der Tradition kam, zum Fest einen Tannenbaum zu schmücken, kann niemand so recht sagen. Auch in Europa gibt es diese Tradition noch nicht allzu lang. Mit dem Vormarsch des Christentums wurde der alte Brauch, Bäume mit Bändchen zu schmücken, für heidnisch erklärt. Die Tradition tauchte erst Anfang des 17. Jahrhunderts im Elsass wieder auf. Eine Erklärung für ihre Verbreitung nach Russland ist, dass Prinzessin Charlotte, Frau des Kaisers Nikolai I., diesen Brauch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ins Zarenreich brachte. Einer anderen Version zufolge stammt er von deutschen Siedlern, die in den 1840er-Jahren nach Russland emigrierten.
Doch es gab in der russischen Geschichte auch eine Zeit, als Tannenbäume verboten waren, und nicht etwa, weil sie von einem heidnischen Brauch stammten. 1916, während des Ersten Weltkriegs verbat der Heilige Synod der orthodoxen Kirche, Tannenbäume „nach deutschem Brauch" aufzustellen. Drei Jahre später kam es zur Revolution und in Russland kamen die Bolschewiken an die Macht. Sie predigten den Atheismus und kämpften mit der Kirche in allen Fragen, außer einer: Sie unterstützten das Tannenbaumverbot. Doch während die Kirche lediglich die Tanne als Brauch des Kriegsgegners verbot, ging es den Bolschewiken grundsätzlich um die Symbolik des Weihnachtsfestes.
Und nur zehn Jahre später, 1928, wurde die Tanne wieder offiziell erlaubt. Bereits ein Jahr später stellte sich die gesamte Planwirtschaft des Staates auf den Neujahrs-Tannenbaum ein: Die Glühbirnenfabrik produzierte Schmuckkugeln, die Moskauer Kabelfabrik drehte Sterne für die Tannenbaumspitzen; doch anstelle des Sterns von Bethlehem befand sich dort nun ein fünfzackiger Sowjetstern. In den 1960ern startete in der Sowjetunion die Massenproduktion von Kunststofftannen.
Das katholische Weihnachten wird natürlich schon am 24. Dezember gefeiert, wie hier an der katholischen Kirche in Moskau.
ReutersDas Neujahr in Russland hat noch eine besondere Eigenheit: Während in anderen Ländern Kinder Geschenke vom Weihnachtsmann oder dem Christkind bekommen, kommt in Russland Väterchen Frost vorbei. Das hängt wieder mit dem atheistischen Charakter des Fests zusammen, das nach 1928 wiederbelebt wurde. Statt einem kirchlichen Heiligen kommen Figuren aus der russischen Folklore zu uns: Väterchen Frost und seine Enkelin Schneeflöckchen. Äußerlich unterscheidet er sich wenig vom Weihnachtsmann, nur der Bart ist etwas länger und die Sprache der Wahl eine andere.
Nach altem Brauch feiert man Neujahr also zweimal in Russland: einmal nach dem gregorianischen und 13 Tage später nach dem julianischen Kalender. Mittlerweile kommt diese Tradition allerdings immer mehr aus der Mode, es sind ja fast 100 Jahre seit der Abschaffung des julianischen Jahreswechsels vergangen.
Das Alte Neujahr ermöglicht es, die Feierlichkeiten auf zwei Wochen oder darüber hinaus auszudehnen: Man kann am 24. Dezember mit dem europäischen Weihnachtsfest beginnen, danach kommt am 1. Januar das Neujahrsfest, am 7. Januar das orthodoxe Weihnachten und schließlich am 14. Januar das Alte Neujahr. Um diesen Marathon zu überleben, braucht man Verpflegung. Besonders eignen sich dafür der Kultsalat „Olivier“ und „Sowetskoje Schampanskoje“ – sowjetischer Sekt.
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