In Berlin hat sich das Ensemble Russkaja Szena mit russischen Stücken durchgesetzt und erfreut sich wachsender Beliebtheit. Auf dem Bild: Eine Spielszene aus der Aufführung "Tschajka" ("Die Möwe") von Anton Tschechow. Foto: Theater "Russische Bühne"
Der Leiter der Russkaja Szena Ilja Gordon, ausgebildeter Informatiker, wanderte Ende der 1990er Jahre nach Deutschland aus. Seine Heimat besuchte er fortan im Rahmen von Dienstreisen. Von einer solchen Dienstreise brachte er seine Frau Inna Sokolowa mit, Stanislawski-Schülerin in zweiter Generation. Sie lernte einst bei Juri Malkowski, einem der letzten Schüler und Assistenten Stanislawskis.
Die Entscheidung für eine neue Heimat wollte Inna nicht an die Aufgabe ihres Berufes knüpfen. So eröffnete sie in Berlin ein Theaterstudio für Kinder. Dann inszenierte sie ihr erstes russisches Bühnenstück in Berlin. Sie stellte es anhand von „Die jüdische Frau", einem kleinen Fragment aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reichs" zusammen. Die Übersetzung der Verse ins Russische besorgte Juri Lewitanski. „Ein Deutscher, der in der UdSSR studiert hat und die russische Sprache außerordentlich gut beherrscht, erklärte mir nach der Aufführung, dass Brecht in der Übersetzung besser klingt", erzählt Ilja.
In Berlin, wo Russisch die Muttersprache von vielen Immigranten ist, musste es möglich sein, ein russisches Theater ins Leben zu rufen. Diese Annahme sollte sich bewahrheiten. Die Truppe zog mehrfach um aber das Ensemble festigte sich – unter den russischsprachigen Einwanderern waren zahlreiche ausgebildete Schauspieler, die es zur Bühne zog. Schließlich fand die Russkaja Szena eine ständige Bleibe in der Kurfürstenstraße. Das Theater kommt ohne jegliche staatliche Finanzierung aus.
Im Repertoire der Russkaja Szena sind siebzehn Stücke für Erwachsene und fünf für Kinder – Shakespeare, Schiller, Ostrowski, Tschechow, Puschkin, Bayron, Lermontow und sogar Salvador Dali. Eines der bekanntesten Schauspiele ist „Geständnis einer Maske" nach einem Roman von Mishima Yukio. Es gehört schon seit einigen Jahren zum Repertoire, wurde mehrfach auch in Moskau aufgeführt und erhielt eine Auszeichnung auf dem Internationalen Festival für Ein-Mann-Shows in Bitola, Mazedonien.
Andre Moschoj, der die Rolle in diesem Drama von Mishima spielt, trat in Berlin erstmals in russischer Sprache auf. Geboren in einem moldawischen
Dorf, in dem niemand Russisch sprach, studierte in der moldawischen Schtschukin-Theaterhochschule, emigrierte danach, spielte in rumänischer, und später, nach seinem Umzug nach Italien, in italienischer Sprache. Erst in Berlin, als es ihn in die Russkaja Szena verschlagen hatte, lernte er die russische Bühnensprache. Sein faszinierender Akzent, in dem sich verschiedenste europäische Sprachen mischen, arbeitet die innere Verfassung des Helden noch mehr heraus: Eines leidenden, verschlossenen jugendlichen Schwulen, der seine Außenseiterrolle seit seiner Kindheit wahrnimmt. Eines Heranwachsenden, dessen Aufrichtigkeit seine Umwelt als Attitüde, dessen gespielte Derbheit, Courage und andere ihm fremde Eigenschaften sie als sein Wesen auffassen. Es gibt in der Russkaja Szena auch einen Schauspieler, der in deutscher Sprache auftreten darf, ein in Berlin geborener Kurde. Alle übrigen Vorstellungen und Schauspielkurse finden auf Russisch statt.
Der finanziell ertragreichste Teil des Theaters sind die Schauspielkurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Jeder der will, kann mitmachen. Die einen träumen von einer Schauspielerkarriere, andere kommen, um ihre Probleme besser bewältigen zu können, ihr Russisch aufzubessern, Komplexe loszuwerden und ein Körperbewusstsein zu bekommen. Psychische Probleme sind bei Migrantenkindern sehr verbreitet, erläutert Inna. Manchmal können Kinder lange Zeit nicht richtig in einem Kurs mitarbeiten, sie sitzen einfach dabei und saugen auf, was sie erleben. Dafür bricht später alles umso ungebremster aus ihnen heraus.
„Gagen zahlen wir nicht, alle Schauspieler treten bei uns unentgeltlich auf", sagt der Leiter. „Wir müssen die Miete für unsere Räume und die Gebühren für die Verwendung der Musik, selbst der russischen, zahlen. In Deutschland sind die Autorenrechte sehr streng geregelt. Natürlich sind die Schauspieler noch auf einen anderen Job angewiesen. Ich arbeite als Übersetzer, ein anderer ist Lehrer, ein dritter Radiomoderator, ein vierter
Webdesigner und Administrator, ein fünfter Model auf dem Laufsteg. Das müssen wir einkalkulieren. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass ein Schauspieler und Model seinen Auftritt auf dem Laufsteg um 19.30 Uhr beendet und unsere Aufführung um 20.00 beginnt, dann hole ich ihn mit dem Auto ab, damit er rechtzeitig da ist. Gott sei Dank gibt es in Berlin kaum Staus."
Die Gründer der „Russkaja Szena" wollen weder mit dem deutschen Theater konkurrieren, noch sich in die deutsche Theaterszene integrieren. Ihr Potential sehen sie in der Besonderheit des Repertoires und der Sprache.
„In Berlin finden jeden Abend durchschnittlich 1 600 bis 2 000 Kulturereignisse statt", so Ilja Gordon. „Es gibt sehr viele Theater, die in einer unglaublichen Konkurrenz stehen. Oft kann man das eine von dem anderen nicht unterscheiden. Viel Ausdruck, Scheitern und Wunsch, das Publikum zu überraschen. Das erklärt teilweise die Projekthaftigkeit vieler Stücke. Bei uns dagegen gibt es im Gegensatz dazu die „Möwe". Auch Schauspielschüler spielen mit. Keinerlei besonderen Effekte, keine inszenierten Katastrophen, niemand versetzt die Zuschauer in Erstaunen. Die Schauspieler fühlen eine tiefe Verbundenheit mit dem Stück, und das Publikum kommt seinetwegen."
Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift des Internationalen Theaterinstituts ITI -Info №21
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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