Erstes Halbjahr 1914 – die Ruhe vor dem Krieg

Sankt Petersburg im Jahr 1914. Foto: Getty Images / Fotobank

Sankt Petersburg im Jahr 1914. Foto: Getty Images / Fotobank

In diesem Jahr jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum einhundertsten Mal. Der Historiker Lew Lurje erzählt, was in den sieben Monaten, von Januar bis Ende Juli 1914, vor dem Ausbruch des Krieges in Russland passierte.

Das Jahr 1914 begann friedlich. In Europa war die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht auf die Politik gerichtet, sondern auf den Sport: In Berlin fand die Weltmeisterschaft im Eisschnelllauf statt, bei der auch Wasilij Ippolitow zu den Medaillengewinnern gehörte. In Helsinki wurden die Meisterschaften im Eiskunstlauf der Männer und in St. Moritz die der Frauen ausgerichtet. Norwegen und Schweden organisierten Freundschaftsspiele, an denen auch die russische Fußballnationalelf teilnahm.

In der russischen Regierung herrschte Harmonie. Die Wirtschaft wuchs schneller als je zuvor, wobei das Bruttoinlandsprodukt mit etwa zehn bis 20 Prozent pro Jahr anstieg – das ist mehr als das Wirtschaftswachstum des heutigen Chinas. Maurice Baring, ein britischer Journalist schrieb damals: „Es hat den Anschein, als hätte Russland niemals zuvor eine solche Zeit erlebt, in der das Land in materieller Hinsicht derart aufblüht wie jetzt, oder anders gesagt: es scheint als würde die große Mehrheit der Bevölkerung in einer Zeit leben, in der sie weniger Grund hat, unzufrieden zu sein, als jemals zuvor."

Zugegebenermaßen schränkte die Ständeordnung damals die soziale Mobilität drastisch ein: Die Arbeiter waren in einem sozialen Ghetto eingesperrt und hatten keine Möglichkeit gesellschaftlich aufzusteigen. Das Proletariat fühlte sich unterdrückt und die Bauern forderten die Enteignung der Großgrundbesitzer. Schon der geringste Anlass führte damals unweigerlich zu einem Aufstand.

Auch für den russischen Zaren Nikolaj II. begann das Jahr 1914 wie jedes andere – es gab keinen Grund zur Unruhe. Laut einem Tagebucheintrag hatte er in diesem Jahr bereits mehrmals das „Vergnügen", dem von unzähligen Legenden umwobenen angeblichen Hellseher und Wunderheiler Grigorij Rasputin zu begegnen. Am Geburtstag des deutschen Kaisers Wilhelm II. frühstückte Nikolaj II. zur Feier des Tages gemeinsam mit dem deutschen Botschafter.

Das Jahr begann für den russischen Zaren in Zarskoe selo (das heutige Puschkin, eine Vorstadt von St. Petersburg – Anm. d. Red.). Danach begab er sich auf eine Reise zur Halbinsel Krim: „Wir fuhren an unzähligen Herden von Zuchtvieh und Pferden vorbei. Zwischendurch bekam ich Wisente und Bisons, aber auch Zebras zu Gesicht. Ich wusste wegen der vielen Eindrücke und der reichen Artenvielfalt nicht wohin ich meinen Blick richten sollte". Von der Krim aus reiste die Zarenfamilie weiter nach Rumänien, von wo sie auf den Peterhof zurückkehrte und auf der Jacht „Standard" zu den finnischen Schären weiterfuhr.

Obwohl Nikolaus II. viel arbeitete, erholte er sich auch gerne: „Wir spielten verschiedene Puzzlespiele, die aus Holz waren" – auch Domino und Würfelspiele. Im Winter baute er gemeinsam mit seinem Sohn Schneetürme auf dem Teich in Zarskoe selo. Im Sommer badeten Vater und Sohn in demselben Teich einen Elefanten. Zudem fuhr er Kajak, schwamm und spielte Tennis. Nikolaj II. war auch begeisterter Jäger und notierte akribisch seine Jagderfolge: „33 Fasane, 22 Rebhühner und einen Hasen – insgesamt 56." Abends sah sich Nikolaj II. gemeinsam mit seiner Familie gerne einen „lustigen und interessanten Film" an.

 

Das kulturelle Leben Russlands boomte wie nie zuvor

Im Stand der russischen Kaufleute wurden Hahnenkämpfe zu einem wahren Trend: „Nachdem die Hähne aufeinandertreffen, stürzt sich einer wie besessen auf den anderen und pickt solange rasend auf seinen Gegner ein, bis dieser entweder blutüberströmt zu Boden fällt oder sich schmählich durch eine Flucht rettet. Der Hahnenbesitzer kann damit pro Tag zehn bis 15 Rubel verdienen."

In den 200 Jahren, die seit der Zeit Peters des Großen vergangen waren, hatte das Land, in dem es anfangs keine Kunst, Belletristik und Symphonieorchester, kein Theater oder Ballett gegeben hatte, Europa nicht nur eingeholt, sondern überholt. Während der Herrschaft Aleksandrs II. von 1855 bis 1881 begann der Westen das Besondere an der russischen Musik und Prosa zu erkennen und zu schätzen. Wenig später, als Konstantin Stanislawski die Leinwand eroberte, blickten europäische Regisseure bereits mit Neid nach Moskau. Was Stanislawski für die Kinowelt geschaffen hatte, erzielte Sergej Djagilew für das russische Ballett: Weltruhm. Das 1. Halbjahr 1914 war der Höhe- und Schlusspunkt eines noch nie dagewesenen künstlerischen Aufschwungs.

Die Futuristen erlangten weltweite Aufmerksamkeit – ähnlich wie heutzutage Pussy Riot. Jeder Literaturabend endete mit einem Skandal: „Und wenn ich, ein Hunne, euch heute zur Last war, grobschlächtig und bitter, dann schert mich das nicht, denn ich, der Verschwender von Worten unfassbar, spucke euch lachend ins Fratzengesicht", schrieb damals Wladimir Majakowski.

 

Unter dem Teppich brodelte es bereits

Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 und der Machtübernahme durch die Bolschewiki unter Führung Lenins suchten viele nach Vorzeichen für diese Entwicklung in den ersten Monaten des Jahres 1914 und fanden sie auch. Man musste sich lediglich an die Straßen St. Petersburgs im Juli erinnern und man begriff, dass unter dem Teppich der augenscheinlichen Ordnung Lava brodelte.

Pjotr Durnowo, einer der weisesten Innenminister Russlands, warnte einst den Zaren: „Der Bauer träumt davon, dass ihm fremdes Land geschenkt wird. Der Arbeiter wünscht sich, dass ihm das gesamte Kapital und der Gewinn des Fabrikinhabers übergeben werden. Weiter geht ihre Begierde nicht. Man muss nur diese Losungen im Volk verbreiten, die Regierung ungehindert den bisher eingeschlagenen Weg weitergehen lassen und Russland wird in eine Anarchie stürzen."

Am 7. Juli 1914 erlebte Russland den Beginn von Massenstreiks. 10 000 Menschen standen an diesem Tag auf den Straßen. Am 10. Juli waren es dann bereits 135 000. Die Streikenden bekamen bei ihrer Forderung „Nieder mit dem Absolutismus" auch Unterstützung durch die Arbeiter in den Erdölfeldern von Baku. Am 10. Juli erlebte die Streikwelle schließlich ihren von Gewalt und Aufruhr geprägten Höhepunkt.

Hooligans – Lenin nannte sie „Arbeiterjugend" – legten in St. Petersburg das Straßenbahnnetz lahm. Auf dem Ligowskij Prospekt schlugen sie einen Fahrkartenkontrolleur mit Steinen zu Tode. Zudem demolierten sie 200 der 600 Straßenbahnwagons. Dabei war die Straßenbahn damals das einzige Transportmittel in St. Petersburg, das sich die Arbeiterschicht leisten konnte. Die Fabriken mussten schließen, da man sie nicht mehr erreichen konnte. Vor der Polizei hatten die Streikenden keine Angst, im Gegenteil. Sie lieferten sich mit ihr regelrechte Gefechte. Erst der Krieg setzte den Massenstreiks ein Ende.

Vielleicht, so schätzen Historiker ein, hätte eine Unterstützung der Streiks vonseiten der Duma-Abgeordneten, eine politische Veränderung in Russland ohne Blutvergießen und solchen Folgen, wie jene von 1917, bewirkt. Und vielleicht wäre Russland dann auch nicht in den Krieg gezogen.

Am 25. Juli trägt Zar Nikolaj II. folgendes in sein Tagebuch ein: „Am Donnerstagabend hat Österreich Serbien ein Ultimatum mit Forderungen gestellt, von denen acht für einen unabhängigen Staat unannehmbar sind. Heute um sechs Uhr ist die Frist abgelaufen. Alle sprechen nur noch darüber." Nach kurzem Zögern, traf der Zar eine Entscheidung: Russland, ein Verbündeter von Serbien, stellte Österreich ein Ultimatum. Berlin unterstützte Wien. Eine Woche später erklärte Deutschland Russland den Krieg und bereits nach zehn Tagen hatte sich dieser zu einem Weltkrieg entwickelt.

 

Dieser Beitrag erschien zeurst bei Ogonjok.

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