Im September 2000 führte Putin ein langes Gespräch mit Solschenizyn in dessen Haus in Troize-Lykowo. Foto: ITAR-TASS
Die Beziehungen zwischen der Literatur und dem Staat waren in Russland immer kompliziert. Sie ähnelten häufig einer Hassliebe: Schriftsteller wurden verbannt und erschossen, zugleich ehrte man sie mit Auszeichnungen und hörte auf ihren Rat.
In den 1990er-Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, setzte eine Phase der wechselseitigen Gleichgültigkeit ein. Angesichts erbitterter Parteienkämpfe, Kriege und einer dramatischen Wirtschaftskrise stand weder der Gesellschaft noch der Regierung der Sinn nach Literatur. Diese reagierte ebenfalls mit Rückzug. Über Politik zu schreiben oder überhaupt politische Fragen zu erwähnen, galt in literarischen Kreisen als profan und unredlich.
Diese Zeiten jedoch sind vorbei. Literatur und Regierung nehmen in Russland einander immer lebhafter wahr. Auf eine lange Periode der Teilnahmslosigkeit folgt nun eine neue Ära, die wieder von gegenseitiger Anziehung und Ablehnung geprägt ist. Die Einstellung zur Politik, zur Opposition, zur Regierung und zu aktuellen Ereignissen im Land ist in der Kunst wieder ausschlaggebend. Die alte sowjetische Losung „Auf wessen Seite steht Ihr, Meister der Kultur?“ hat neue Aktualität erlangt.
Putin trifft sich gern mit Literaten
Das kürzlich organisierte Treffen von Präsident Putin mit einigen Schriftstellern teilte die Literaturszene in zwei Lager. Die einen wollen sich auf die Seite der Regierung schlagen und entsprechende Privilegien genießen, die anderen unterstützen in ihren Büchern, in Zeitungsartikeln und auf der Straße die politische Opposition.
Die Anfänge dieser Spaltung liegen schon sieben Jahre zurück und sind mit einem Empfang in der Präsidentenresidenz in Nowo-Ogarjowo verknüpft. Damals, im Jahr 2007, hatte sich Putin mit einigen jungen, politisch aktiven Literaturschaffenden getroffen, unter anderem mit dem deutlich regierungskritischen Sachar Prilepin. Der russische Präsident brachte während dieses Treffens den bereits in Vergessenheit geratenen sowjetischen Begriff des „Gossakas“ („Staatsauftrag“) wieder ins
Gespräch. Als vorrangige Ziele bei solchen Staatsaufträgen in der Literatur sah er „die Propagierung einer gesunden Lebensweise, der Familie, der Armee und der Kampf gegen den Drogenmissbrauch“. Die Schriftsteller schlugen dem Präsidenten vor, eine russlandweite Gesellschaft zur Förderung junger Talente ins Leben zu rufen. Allem Anschein nach hatte man eine Art Jugendverband für Schriftsteller vor Augen. Die Assoziation mit der vergangenen Zeit, als die Literatur von sowjetischen Beamten nach den gleichen Prinzipien wie die Fleisch- und Milchindustrie gelenkt wurde, lag nahe.
Es ist einerseits wichtig, unabhängig zu sein. Kann man andererseits dem Schicksal des Heimatlandes gleichgültig gegenüberstehen? Diese Frage mussten die Schriftsteller abhängig von ihren eigenen Überzeugungen und Interessen entscheiden. Viele, vor allem junge Leute, fühlten sich von der Idee einer organisierten Form ihrer Existenz – unter dem Dach des Staates – tatsächlich angezogen.
Die Zusammenkünfte von Präsident Putin und den Schriftstellern wurden zu einer regelmäßigen Veranstaltung. Einige kritische Geister wie Boris Akunin verweigerten demonstrativ ihre Teilnahme und taten das auch öffentlich kund. Andere, wie etwa der Schriftsteller und Fernsehmoderator Alexander Archangelski, nutzten die Gelegenheit, Putin auf aktuell drängende Probleme aufmerksam zu machen, namentlich auf den Fall Chodorkowski. Man begann, über die Probleme der Korruption, des Drogenmissbrauchs und der politischen Gefangenen öffentlich zu diskutieren. Es gab auch Versuche, Putin persönlich zu kritisieren. Der Präsident reagierte darauf mit der Aufforderung, „die Regierung zu kritisieren“, das aber „kreativ“. Putin nahm den politischen Impuls der Schriftsteller allerdings nicht ernst – was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich wieder und wieder mit ihnen zu treffen.
Die erstarkte Beziehung zwischen Politik und Literatur in den 2000er-Jahren symbolisierte insbesondere der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Als scharfer Kritiker des sowjetischen Regimes bekannt, wollte er persönlich am Aufbau eines neuen Staates nach nicht-sowjetischen Prinzipien mitwirken. Dafür kehrte er aus Amerika, wo er viele Jahre gelebt hatte, in seine alte Heimat zurück. Im September 2000 führte Putin ein langes Gespräch mit dem Schriftsteller in dessen Haus in Troize-Lykowo. Solschenizyn äußerte sich später positiv über den Präsidenten und erklärte, er habe ihm „Ratschläge“ zur Regierung des Landes gegeben. Das zweite Mal besuchte der Präsident Solschenizyn, um ihm den Staatspreis der Russischen Föderation zu verleihen. Nach dem Tode Solschenizyns erschien Putin persönlich zur Trauerfeier des Schriftstellers und legte einen Blumenkranz an seinem Grab nieder. So erhielt der Kritiker des Sowjetregimes und Antistalinist, der frühere Gulag-Häftling, postum noch die Weihen der Staatsmacht.
Regierungskritische Literaten sind populär
Neben der wechselseitigen Anziehung von Literatur und Staatsmacht treten auch auseinanderstrebende Tendenzen, ja sogar offene Konfrontationen zutage.
Im Jahr 2012 beteiligten sich einige Schriftsteller sehr aktiv an den Straßenprotesten. Sie sprachen auf Kundgebungen, schlossen sich dem Koordinationsrat der Opposition an und veranstalteten eine eigene Protestaktion, den sogenannten „Marsch der Schriftsteller“. Dieser Marsch war eine Antwort auf die Massenfestnahmen von Oppositionellen nach der Demonstration am 6. Mai. An dem Protestzug, der vor dem Puschkin-Denkmal startete, beteiligten sich mehrere Tausend Menschen, darunter Boris Akunin, Ludmila Ulizkaja und Dmitrij Bykow. Die Aktion verlief friedlich und ohne Losungen und Transparente.
Ein weiteres Beispiel oppositionellen schriftstellerischen Engagements ist der Fall Michail Schischkin. Der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller erklärte im Frühjahr 2013 in einem Schreiben an die russische Medienagentur „Rospetschat“, er werde Russland auf der Buchmesse BookExpo America 2013 nicht vertreten. Er wolle nicht mit einem Land identifiziert werden, „das von einem korrupten kriminellen Regime regiert wird, dessen Staat einer Gaunerpyramide gleicht, wo Wahlen eine Farce sind und die Gerichte der Macht, nicht dem Gesetz gehorchen“. Das Schreiben löste einen großen Presserummel aus, danach aber glätteten sich die Wogen schnell. Schischkins Bücher erscheinen weiter in Russland, niemand scheint Anstoß an ihm zu nehmen.
Und schließlich wäre da noch „Bürger Poet“ zu nennen, ein Fernsehprojekt, in dem der Schauspieler Michail Jefremow satirische Gedichte von Dmitrij Bykow zu aktuellen Fragen das Tages vortrug. Das Projekt hatte nicht nur im Netz beachtlichen Erfolg, es wurden auch Live-Veranstaltungen vor großem Publikum organisiert. Ungeachtet der scharfen politischen Satire, die auch die ersten Männer im Staat nicht verschonte, unternahm man keine Versuche, dem Projekt Steine in den Weg zu legen. Im Gegenteil: Regierungskritische Bücher erscheinen ungehindert und erfreuen sich einer großen Leserschaft.
Wie sehen Kenner der Literaturszene und Schriftsteller die Aufgabe eines Künstlers? Sollte sich ein Künstler heute politisch positionieren? Drei Antworten, drei Meinungen.
Andrej Wassiljewski, Chefredakteur der Zeitschrift „Nowy Mir":
„Dem Künstler steht es frei, das zu tun, er ist aber nicht dazu verpflichtet. Ein Künstler wird nicht dadurch zum Künstler, dass er eine politische Position vertritt, sondern dadurch, dass er Kunst schafft. In den Gedichten zu den aktuellen Fragen des Tages kommen natürlich politische Ansichten des Autors zum Ausdruck. Aber vielleicht nicht so, wie das der Schriftsteller dachte. Die Intention des Künstlers bleibt in seinem Kopf. Wir sehen das, was dem Autor gewissermaßen aus der Feder fließt. In fünfzig oder hundert Jahren wird seine politische Position nur noch als biografische Tatsache relevant sein. Iwan Bunin und Andrej Platonow sind Klassiker der russischen Prosa, ganz unabhängig von ihren verschiedenartigen, ja sogar gegensätzlichen Beziehungen zur politischen Macht."
Sergej Lukjanenko, Fantasy-Autor:
„Schriftsteller sind in der Regel Laien – auf politischen, wirtschaftlichen und fast allen anderen Gebieten. Ihre Überlegungen dazu, was man tun und lassen soll, sind möglicherweise vollkommen unsinnig. Da sie sich aber besser als andere ausdrücken können, mag dieser Unsinn überzeugend wirken. In den meisten Fällen unterscheidet sich die Aussage eines Schriftstellers wenig von der Aussage eines beliebigen anderen Menschen. Wenn die Regierung nicht gerade gegen Grundrechte verstößt, sollte ein Schriftsteller sich aus der Politik heraushalten. Ein Schriftsteller darf zwei Dinge von der Regierung erwarten: dass sie für friedliche Beziehungen des Landes nach außen und für Sicherheit im Inneren sorgt."
Wsewolod Jemelin, Dichter:
„Eine politische Meinung zu haben ist heute interessanter, als keine zu haben – und nützlicher. Wer braucht heute schon Bücher. Eine politische Position aber ist gefragt. Alle wollen wissen, ob du für oder gegen Putin bist. Natürlich juckt das Putin nicht sonderlich. Das öffentliche Gewicht der Literatur ist so gering, dass die Regierung es sich leisten kann, sie zu ignorieren. Daher haben wir auch keine Zensur: Sollen sie doch schreiben, was sie wollen, es bleibt sowieso ohne jede Wirkung."
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