In sowjetischen Zeiten wurden Schokoladenerzeugnisse zur zweiten Währung. Foto: ITAR-TASS
Ende des 19. Jahrhunderts waren die beliebtesten Konditoreien des russischen Zarenreichs die Fabriken Alexej Abrikosows. Die dort hergestellten Karamellbonbons „Rakowyje schejki“ („Krebshälse“), „Gusinyje lapki“ („Gänsefüße“) und „Utinyje nosiki“ („Entenschnäbelchen“) waren Verkaufsschlager. Nicht weniger beliebt waren auch die Karamellbonbons mit dem seltsamen Namen „Utinyj nos ot kaschlja“ („Entenschnabel gegen Husten“) und die Geleestückchen „Liliput“. Äußerst gefragt in Russland waren auch Früchte mit Schokoladenglasur. Sie kamen zunächst aus Frankreich, und das Rezept ihrer Herstellung war ein großes Geheimnis. Doch Abrikosow kam dem Geheimnis auf die Spur und errichtete bald sein eigenes Werk am Schwarzen Meer. Damit die Konkurrenz nichts davon mitbekam, verbarg der Firmenpatron die Bauarbeiten vor der Öffentlichkeit und erklärte, dass er auf seine alten Tage beschlossen habe, sich dem Export chinesischen Tees zu widmen. Das Werk ging schließlich in Betrieb, und alle Konditoreien des Zarenreichs verkauften fortan Abrikosows Früchte in Schokoladenglasur. Die Konkurrenz hatte das Nachsehen und Abrikosow wurde offiziell zum Hoflieferanten des Zaren ernannt.
Die sowjetische Konditoreiindustrie übernahm einen Großteil des Pralinensortiments sowie die Fertigungsverfahren Abrikosows. Im ganzen Land wurden nun „Krebshälse“ und „Gänsefüße“ produziert. Die ehemaligen Abrikosow-Fabriken wurden in die später sehr angesehene Moskauer Babajew-Konditoreifabrik umfirmiert. Hier fertigte man die gehobenen Konditoreierzeugnisse für das Land, zum Beispiel die Schokolade mit Nussstreuseln „Wdochnowenije“ („Inspiration“) mit einem tanzenden Paar vor dem Hintergrund des Bolschoi-Theaters auf der Verpackung. Jedes Schokoladenstück war separat in Alufolie verpackt. Zu Sowjetzeiten war diese Schokolade eine Art Visitenkarte des Landes und Ausländer kauften sie als Souvenir.
Die sowjetischen Pralinen waren nicht so edel wie die des zaristischen Russland, denn sie wurden in großer Stückzahl zu möglichst geringen Kosten gefertigt. Das Verpackungsdesign erfolgte nach Einheitsentwürfen für das ganze Land. Die Fertigungsbetriebe konnten die vom staatlichen
Auftraggeber geforderten Stückzahlen jedoch nicht produzieren. Die Folge war, dass diese Erzeugnisse zur „Bückware“ wurden, also in der Regel nur unter dem Ladentisch gehandelt wurden. Dadurch wurden edle Schokoladenpralinen wieder zu einem Privileg der Elite, und nicht etwa, weil sie so teuer waren. Ganz im Gegenteil – sie waren so preiswert, dass sie, ehe man es sich versah, in den Ladenregalen nicht mehr zu finden waren.
Die Mangelwirtschaft gebar ein recht ungewöhnliches, inoffizielles „Zahlungsmittel“: die Pralinenschachtel. Der Sekretärin schenkte man Schokolade, wenn man ohne Anstehen bei ihrem Chef vorgelassen werden wollte. Beamten schenkte man Schachteln mit edlen Pralinen, wenn man den Stempel auf einem wichtigen Dokument benötigte. Ärzten wurde für deren – eigentlich selbstverständliche – Arbeit mit teurem Cognac und Pralinen gedankt. Für diese Sitte gab es einen einfachen Grund: Geldgeschenke waren unter Androhung drakonischer Strafen verboten, wohingegen Pralinen ja nur eine kleine Aufmerksamkeit darstellten. So wurden Schokoladenerzeugnisse zur zweiten sowjetischen Währung.
Mitte der Sechzigerjahre beschloss die Regierung, die Milchschokolade „Aljonka“ für den Otto Normalverbraucher auf den Markt zu bringen. Die Schokolade wurde für die nächsten Jahrzehnte zur größten Kalorienquelle russischer Kinder. Sie erlangte dank des kleinen Mädchens auf der „Aljonka“-Verpackung Kultstatus, ähnlich wie die „Kinderschokolade“ mit dem Knabengesicht in Deutschland. Binnen kürzester Zeit rankten sich um die Milchschokolade verschiedenste Geschichten. Es hieß, dass das kleine Mädchen auf der Verpackung die Tochter eines Kosmonauten sei, entweder der ersten Frau im Weltall, Walentina Tereschkowa, oder aber Jurij Gagarins, des allerersten Kosmonauten überhaupt.
Das sind allerdings nur Legenden. In Wirklichkeit hat die Geschichte folgenden Hintergrund: Da Aljonuschka, die Koseform des Namens Aljona, die Figur eines russischen Volksmärchens ist, sollte auf der Verpackung ursprünglich eine märchenhafte Bäuerin abgebildet werden. Aber es stellte sich heraus, dass die Konkurrenz für ihre Schokolade bereits ein ähnliches Motiv verwendete. Deshalb änderte man den Namen in „Aljonka“ um, was einen offizielleren Klang hatte, und beschloss, die Schokolade der Konkurrenz mithilfe der Kommunistischen Partei verbieten zu lassen. Es konnte ja schließlich nicht sein, dass gute sowjetische Süßigkeiten mit barfüßigen Mädchen beworben wurden – als wenn die Eltern des Mädchens kein Geld hätten, ihm Schuhe zu kaufen!
Dann begab man sich auf die Suche nach einem neuen Motiv. 1965 rief die Zeitung „Wetschernaja Moskwa“ einen Wettbewerb für das beste Kinderfoto aus. Nach Sichtung Hunderter von Einsendungen beschloss man in der Fabrik letzten Endes, die Tochter des Werk-Designers Alexander Gerinas, die kleine Jelena, zu zeichnen. Im Gegensatz zu der barfüßigen Aljonuschka der Konkurrenz hat die Aljonka, die ein rotes Kopftuch trägt, rosige Wangen und rote Lippen, was den Idealen des sowjetischen Wohlergehens eher entsprach.
Seitdem ist nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen und die Auswahl der Schokoladensorten in Russland hat sich um ein Vielfaches vergrößert. Aber das kleine Mädchen mit dem roten Kopftuch auf der Verpackung der „Aljonka“-Schokolade schaut uns immer noch aus jedem Konditorei-Schaufenster an.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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