Der Literaturpreis "Das große Buch" zeichnet russische Prosawerke aus und wird im November verliehen. Foto: Getty Images / Fotobank
Die Shortlist des russischen Literaturpreises „Das große Buch“, der in diesem Jahr zum zehnten Mal vergeben wird, steht fest. Der Literaturpreis zeichnet russische Prosawerke aus und genießt höchste Anerkennung – er ist auch der am höchsten dotierte Literaturpreis: Das Preisgeld beträgt insgesamt rund 130 000 Euro. Die Auszeichnung wird jährlich für die drei besten russischsprachigen Werke verliehen. Die Namen der Preisträger werden im November bekannt gegeben.
Traditionell wählt die Jury aus der Longlist acht bis fünfzehn Werke aus. Insgesamt haben es in diesem Jahr 29 Bücher auf die Longlist und davon neun auf die Shortlist geschafft. Die nominierten Werke sind:
Geschichte als Katalysator
Unter Experten gilt der neue Roman von Sachar Prilepin, „Obitel – Das Kloster“, als Favorit. In diesem Roman wird die Geschichte des alten Solowezki-Klosters, das in den 1920er-Jahren zu einem Gefängnis umgebaut wurde, aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der sich dort wegen fahrlässiger Tötung zu verantworten hat. „In diesem Roman erreicht Prilepin ein neues Niveau seines Schreibens und seines Verständnisses vom Leben“, meint Michael Butow, Vorsitzender der Expertenjury des Literaturpreises. „Bedeutender aber ist, dass in dem Buch das stets aktuelle Problem der geistigen Leistung, die ein Mensch unter den Bedingungen von Repression und Überlebenskampf erreicht, reflektiert wird. Nicht nur russische Leser verstehen und schätzen dieses Thema.“
Von den 1920ern handelt auch der Roman „Das Werk ‚Freiheit‘“ von Xenia Bukscha, in dem die Epoche des Werdens der sowjetischen Staatlichkeit mit den Augen von Arbeitern aus einem Rüstungsbetrieb gezeigt wird. Das Buch basiert auf einem Interview, das die Autorin mit Mitarbeitern eines Sankt Petersburger Betriebs geführt hat, und enthält Fragmente direkter, lebendiger Rede – es ist ein künstlerisches Werk, das das fast vergessene sowjetische Genre des Produktionsromans reanimiert.
Ähnlich ist auch die Methode, die Swetlana Alexijewitsch anwendet. Sie war Anwärterin auf den Literaturnobelpreis im Jahr 2013, ist Herder- und Remarque-Preisträgerin. Ihr Roman „Second Hand Time“ erzählt mit unterschiedlichen Stimmen über das Leben in der Sowjetzeit, die mit dem Auseinanderbrechen der UdSSR längst nicht vorbei war. Es ist ein eher dokumentarischer Text, der anhand realer Aussagen erstellt wurde, aus Geschichten, Interviews oder einfach nur aus Gesprächen in lockerer Runde. „Auch das kann Literatur sein. Anhand der Bücher von Alexijewitsch kann man die Geschichte unseres Landes authentischer studieren als in jedem beliebigen Lehrbuch“, lobt Michail Butow und fügt hinzu: „Man kann sich mit Alexijewitsch identifizieren oder mit ihr streiten, man kann sie auch einfach ablehnen, doch sie ist eine Schriftstellerin, die niemanden kalt lässt.“
Die große russische Literatur kehrt zurück
Auch die beiden anspruchsvollsten Romane auf der diesjährigen Shortlist setzen sich mit der russischen Geschichte auseinander. In dem Briefroman
„Rückkehr nach Ägypten“ von Wladimir Scharow versucht der sowjetische Agrarwissenschaftler Nikolai Gogol, Nachfahre des gleichnamigen russischen Schriftstellers, eine Fortsetzung des Romans „Die toten Seelen“ zu schreiben. Jedoch geht es in dem Roman nicht um Gogol, sondern um die Wege sowjetischer Generationen, deren Leben mit dem zweiten Buch Mose, dem Exodus, in Beziehung stehen – von daher auch der Name des Romans. Butows Worten zufolge ist Scharow „einer der kompliziertesten russischen Schriftsteller, aber auch einer der interessantesten. Während andere sich nur von Zeit zu Zeit auf ein schöpferisches Experiment einlassen, ist bei ihm das Experiment Inhalt seines gesamten Schaffens.“
Nicht weniger komplex ist der in den Traditionen der europäischen Moderne geschriebene Roman „Dampfschiff nach Argentinien“ von Alexej Makuschinski, Sohn des sowjetischen Schriftstellers Anatoli Rybakow, der seinerzeit Opfer der Stalinschen Repressionen geworden war. In dem Roman wird die russische Geschichte mit der europäischen Historie verflochten. Mit seiner komplexen Sprache kann Makuschinski durchaus mit Proust konkurrieren – ihn zu übersetzen gestaltet sich als ebenso kompliziert.
Die alternative Geschichte Russlands ist ein Lieblingsthema von Wladimir Sorokin, der es mit dem Roman „Tellur“ auf die Shortlist geschafft hat. Sein Werk ist eine Dystopie, in der Russland in eine Zeit rivalisierender Fürstentümer zurückversetzt wird. Sorokin ist ein hervorragender Stilist,
und dieses Mal hat er den Text in 50 sprachlich unterschiedlich gestaltete Teile gegliedert – so reflektieren die Teile die unterschiedlichen Denkweisen der Bürger seines fiktiven Russlands der Zukunft.
Ungeachtet des Facettenreichtums der Finalisten, so bemerkt Michail Butow, sei er in diesem Jahr wohl zum ersten Mal in der Lage, Antwort auf die beliebte Frage zu geben: Kann man von einem Trend in der Literatur in diesem Jahr sprechen? „Man kann!“, sagt Butow und erläutert: „Die Shortlist für ‚Das große Buch 2014‘ zeigt, dass der traditionelle Erzählroman in die russische Prosa zurückkehrt – umfangreich, in elaborierter Sprache geschrieben, grundlegende Fragen des Lebens aufwerfend, also die Art Roman, für die die russische Literatur schon immer berühmt war.“
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