Als Russland für elf Jahre auf dem Trockenen saß

Als in Russland das Trockengesetz eingeführt wurde, nahm auf den Dörfern die Schwarzbrennerei zu. In den Städten konsumierten Alkoholiker als Ersatz vergällten Spiritus, Politurmittel oder sogar Lacke. Bild: Natalia Michajlenko

Als in Russland das Trockengesetz eingeführt wurde, nahm auf den Dörfern die Schwarzbrennerei zu. In den Städten konsumierten Alkoholiker als Ersatz vergällten Spiritus, Politurmittel oder sogar Lacke. Bild: Natalia Michajlenko

Wer „Prohibition“ hört, denkt sofort an Al Capone und US-amerikanische Gangsterfilme. Aber auch in Russland wurde 1914 der Alkoholverkauf verboten. Nicht alle Russen waren von der staatlich verordneten Enthaltsamkeit begeistert.

In Russland wurden der Verkauf und die Produktion von alkoholischen Getränken am 31. Juli 1914 per Dekret des Zaren verboten. Das Alkoholverbot sollte zunächst nur während der Mobilisierung des russischen Heeres gelten, das sich bereit machte, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Doch bald wurde es verlängert und galt auch während des Krieges. Und mehr noch: Die Vertreter der Bauern hatten einen Gesetzesentwurf eingebracht, der den Alkohol „für alle Zeiten außer Umlauf“ bringen sollte. Dieser konnte sich jedoch nicht durchsetzen.

Das Alkoholverbot konnten die örtlichen Verwaltungsorgane selbständig verhängen. In einigen Städten und Landkreisen galt ein absolutes Alkoholverbot, andere erlaubten noch Bier und Wein. Wodka jedoch war überall verboten. Die Prohibition überdauerte den ersten Weltkrieg und wurde nach der Oktoberrevolution von 1917 durch die Bolschewiken fortgeführt. Bis 1925, elf Jahre lang, saß Russland auf dem Trockenen.

Eine beispiellose Heldentat

Wie kam es dazu, dass den Russen der Alkohol verboten werden sollte? Damals galten die Russen noch gar nicht als größte Schluckspechte Europas. Die Italiener sollen dreimal so viel, die Franzosen sogar fünfmal so viel Alkohol getrunken haben. Doch wenn die Russen tranken, und zwar am liebsten Wodka, dann oft in gefährliche Mengen. Das hatte Folgen: Während des Russisch-Japanischen Krieges beeinträchtigte die Trunksucht die Mobilisierung der russischen Armee erheblich. Die Zahl der durch Alkoholismus psychisch erkrankten Soldaten war zu dieser Zeit erschreckend hoch.

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wollte sich der Zar selbst ein Bild machen und ging auf Reisen. Der Historiker Sergej Oldenburg schreibt in seinen Chroniken: „Von tiefem Schmerz erfüllt, musste er das erbärmliche Bild von der Schwäche des russischen Volkes, des familiären Elends und der vernachlässigten Häuser, eben die unabwendbaren Folgen der Trunkenheit, mit ansehen.“

Der Zar entschloss sich zu einem radikalen Schritt. Die Einnahmen aus dem Handel mit Wodka machten damals immerhin ein Drittel des Staatsbudgets aus. Doch der Zar sah im Alkohol eine Gefahr für die „seelische sowie wirtschaftliche Kraft“ des Landes und setzte ein Alkoholverbot durch. Die Staatskasse musste von nun an auf Einnahmen aus dem Alkoholhandel verzichten. Der ehemalige britische Premierminister Lloyd George nannte diese Maßnahme „die beispielloseste Tat nationalen Heldentums, die ich kenne“.

Kurz nach der Einführung dieser Zwangsmaßnahmen nahmen die neuen Abstinenzler an wissenschaftlichen Studien teil. Die Ergebnisse waren berauschend. Die Kriminalitätsrate sank und die Zahl der psychisch erkrankten Menschen in Kliniken ging zurück. Die Dörfer in den ländlichen Regionen veränderten sich, denn die Bauern brachten ihre Häuser wieder auf Vordermann. Sie hatten Geld übrig, das sie zur Bank brachten. Überall war die Stimmung besser. „Sogar die Haustiere sind wieder fröhlicher“, hieß es. Viele ehemalige Trinker sollen sogar bereit gewesen sein, mehr Steuern zu zahlen, nur damit der Handel mit Spirituosen nie wieder betrieben werde.

Die unheilvolle Macht der Sucht

Der Verkauf von Spirituosen war nur in Restaurants für Privilegierte erlaubt, was jene erzürnte, die es sich nicht leisten konnten, dort zu speisen. Sie wollten das Verbot nicht hinnehmen. Alleine im August 1914 wurden in den russischen Gouvernements 230 Lokale geplündert. Der Gouverneur von Perm wandte sich sogar mit der Bitte an den Zaren, den Verkauf von Alkohol zumindest für nur zwei Stunden am Tag zu erlauben, „um dadurch blutige Zusammenstöße zu vermeiden“. Soldaten sollen in Perm geschlossene Weinlager gestürmt haben, um an Alkohol zu gelangen. Die Lage konnte damals angeblich nur durch einen Einsatz der Armee unter Kontrolle gebracht werden, wobei es hunderte Tote gegeben haben soll. In den Jahren der Revolution waren solche Überfälle an der Tagesordnung, so dass die Bolschewiken den Bestand des gesamten Weinkellers im Winterpalais, der mehrere Millionen Rubel gekostet haben soll, vorsorglich in die Kanalisation geschüttet haben sollen. Sie fürchteten, dass Soldaten die Vorräte plündern und sich zu Tode saufen würden.

Durch die Einführung des Trockenregimes wurden auch zahlreiche Weinfabriken geschlossen, so dass beinahe 300 000 Menschen ohne Arbeit blieben. Die Regierung musste Mittel aus der Staatskasse bereitstellen, um die arbeitslosen Menschen zu entschädigen.

Und auch auf den Dörfern nahm die Schwarzbrennerei zu. In den Städten konsumierten unverbesserliche Alkoholiker als Ersatz vergällten Spiritus, Politurmittel oder sogar Lacke. Die Produktion von Lacken und Politurmitteln stieg um das Zehnfache an. Selbstgebrannter Schnaps wurde aus allem hergestellt, was sich dazu eignete: aus roten Rüben und sogar aus Holzspänen oder Holzschnitzeln. Es gab Befürchtungen, dass an die Stelle von Alkohol Glückspiel oder sexuelle Ausschweifungen treten würden. Gefahr drohte auch durch den Konsum von Drogen.

Vor allem in Sankt Petersburg stieg die Zahl der Drogensüchtigen. Kokain aus Europa wurde zum festen Bestandteil des Lebensstils nicht nur der Sankt Petersburger Oberschicht, sondern auch von Kommissaren in Lederjacken, die sich von der Revolution mitreißen ließen. Heroin, das früher frei in den Apotheken gekauft werden konnte, wurde zu dieser Zeit als gefährlich eingestuft, wie viele andere nichtalkoholische Substanzen auch, und war legal nicht mehr frei erhältlich. Ersatz lieferten die Griechen und Perser, die 1915 damit begannen, Opium nach Russland zu exportieren.  

Antialkoholisches Déjà-vu

Die sowjetische Regierung hob das Alkoholverbot erst im Jahre 1925 wieder auf, da zu diesem Zeitpunkt Geld benötigt wurde, um die Wirtschaft zu modernisieren. So gibt es autobiographische Zeugnisse, die von jenem Tag berichten, an dem die Alkoholfabriken wieder in Betrieb genommen wurden. Viele Menschen sollen geweint und sich zu diesem Anlass sogar geküsst haben. Andere konnten bestätigen, dass viele geweint haben, jedoch nicht vor Freude, sondern aus Angst und Verzweiflung.

Im Jahr 1986 erlebte das Alkoholverbot in der Sowjetunion ein Comeback. Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, hatte sich den Kampf gegen die Trunksucht auf die Fahnen geschrieben und bediente sich althergebrachter  rhetorischer Elemente und Maßnahmen. Vergleicht man die Inhalte der Zeitungsberichte von 1914 und 1986, so sind sie nahezu identisch. Die Vor- und Nachteile des Alkoholverbotes werden diskutiert, so etwa die Frage, ob eine alkoholfreie Hochzeitsfeier überhaupt jemals eine gute Feier sein könnte. Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Sowohl nach dem Alkoholverbot von 1914, als auch nach dem aus dem Jahre 1986 gab es einen Regimewechsel. 

 

Michail Butow ist Schriftsteller und Träger des Literaturpreises „Russischer Booker“.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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