Graffiti ist in Russlands Kulturszene längst salonfähig. Foto: Dmitrij Pilikin
Es dauerte nicht lange, bis sich in Russland aus einem anfänglichen Interesse für amerikanische Old-School-Graffiti eine komplexe Straßenkunst europäischer Tradition entwickelt hat. Mitte der 1980er-Jahre öffnete die Perestroika die Landesgrenzen und urbane Subkulturen der Jugendszene erlebten plötzlich einen wahren Boom. Im Untergrund entstand eine Szene aus Breakdancern, Hip-Hop-Musikern, Rappern und natürlich Sprayern. Die erste Festivalwelle rollte über das Land, großzügige Grafiken, sogenannte Tags, zierten Bahnhofszufahrten und Wände.
Sobald die Tags keine Angelegenheit für Eingeweihte mehr waren, zeigten Politiker reges Interesse daran. Sie erkannten darin ein effektives Propagandamittel. Die Anfänge gehen auf den Wahlkampf Boris Jelzins im Jahr 1996 zurück. Der Spruch „Geh wählen oder du verlierst“ war unter anderem dadurch in aller Munde, weil er an Wände und Zäune gesprayt wurde.
Aufsehen erregte auch das Jugendprojekt Netz, das Wladimir Putin im vergangenen Jahr zu seinem 62. Geburtstag mit einer Aktion unter dem Motto Spasibo (zu Deutsch „Danke“) würdigte. Die Buchstaben des Wortes wurden in sieben Städten von Kaliningrad bis Wladiwostok an die Wände gesprüht. Jeder Buchstabe stellte ein Motiv aus der Präsidentschaft Putins dar: S stand für „Sila“ (zu Deutsch „Kraft“) und zeigte einen russischen Soldat auf der Krim. P stand für „Pamjat“ (zu Deutsch „Erinnerung“) und zeigte den sowjetischen Militärorden Roter Stern. A stand für „Arktika“ (zu Deutsch „Arktis“) und war dargestellt durch den gleichnamigen Atomeisbrecher. S bedeutete „Suwerenitet“ (zu Deutsch „Souveränität“) und wurde durch die Nuklearrakete „Satana“ symbolisiert. Weiter ging es mit dem „I“ für die Geschichte, russisch „Istorija“, und einer Erinnerung an die Volksbefreier Minin und Poscharski und wieder an die Krim. Das „B“ stand für „Besopasnost“ (zu Deutsch „Sicherheit“), die eine Darstellung vom Kreml und Soldaten vermitteln sollte. Das „O“ schließlich stand für „Olimpiada“ und erinnerte an die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014.
In der Street-Art-Szene stieß die Regierungskunst auf wenig Verständnis. Als „Übernahme und Ermächtigung“ wurden die „offiziellen“ Graffitis empfunden und über Nacht „korrigiert“. So wurde in Wladiwostok das Wort „Olimpiada“ zu „OlimpiAda“ umgestaltet, einem Wortspiel aus „Olimp“, zu Deutsch „Olympus“ und „Ad“, zu Deutsch „Hölle“. Die russische Internetgemeinde konnte sich dafür begeistern.
Die Regierung nutzt die Spraykunst auch anderweitig. Für die Machthaber ist sie eine Lösung für das Problem vieler russischer Industriestädte. Die ewiglangen Zäune dort, hinter denen sich verlassene Sowjetbaustellen verbergen, könnten auf diese Weise ansehnlicher gestaltet werden. Verwirklicht wurde die Idee schon 2003 unter dem Projekttitel „Jekaterinburgs lange Geschichten“. Damals wurden kilometerlange Zäune mit Graffitis besprüht.
Anschließend ging es weiter nach Perm. Dort hatte der Galerist und Kulturförderer Marat Gelman Anfang der 2000er-Jahre ein Projekt zur Erneuerung kultureller Stadträume initiiert. Daraus entstanden das städtische Public-Art-Programm und das Permm-Museum für Moderne Kunst.
Unter den russischen Städten war Perm für kurze Zeit richtig angesagt, doch die „Schocktherapie“ hatte auch ihre Schattenseiten: Nach einem erneuten Wechsel an der Spitze der Stadtregierung wurden die meisten innovativen Projekte eingestellt. Das Permm-Museum aber blieb bestehen und seine Kuratorin, Nailja Allachwerdiewa, wandte sich konsequenterweise der Straßenkunst zu. Die Ausstellung „Transitzone“, die 2014 im Permm-Museum stattfand, wurde zu einem Meilenstein für ein qualitativ anderes Verständnis der Straßenkunst in Russland.
Graffiti genießt in Russland ungebrochene Popularität. Das zieht berühmte europäische und amerikanische Künstler an, die sich im Land gerne auf Veranstaltungen zeigen. So waren die New Yorker Pioniere Fernando Carlo und Futura 2000, der Portugiese Vhils, der Brasilianer Os Gemeos, der US-Amerikaner Mark Jenkins, der Argentinier Gualicho und der Weltbürger Isaak Cordall zu Besuch.
Foto: Dmitrij Pilikin
Bei der Vergabe von Kunstpreisen sind es nicht selten Graffiti-Künstler, die groß abräumen. So wurde Tim Radja aus Jekaterinburg 2013 mit dem Innowazija-Preis, der einzigen staatlichen Auszeichnung für moderne Kunst, ausgezeichnet. Im Frühling 2014 fand im Moskauer Museum für Moderne Kunst eine Retrospektive zu Ehren des Künstlers Pasha 183 statt, den die Zeitung „The Guardian“ als „den russischen Banksy“, einen britischen Graffiti-Künstler, bezeichnete.
Sankt Petersburger Graffiti-Museum. Foto: Pressebild
Gleich darauf folgte im Sommer 2013 die Eröffnung des Sankt Petersburger Graffiti-Museums. Die Idee, das Museum auf einem ehemaligen Fabrikgelände zu gründen, gab es bereits 2012. Innerhalb weniger Jahre entstanden dort zwölf gesprayte Kunstwerke russischer Künstler, unter ihnen Pasha 183, Kirill Kto, Nikita Nomerz und Timofei Radja, und auch eines des berühmten Spaniers Escif. Die erste Ausstellung des Museums fand im letzten Sommer als Teil der europäischen Kunstbiennale Manifesta statt.
„Street-Art ist heute die meistgefragte, für Partizipation offenste Kunstform. Natürlich gibt es damit auch Probleme. Der Anspruch vieler Projekte beispielweise ist eher niedrig. Das hängt in erster Linie mit fehlender Kritik und raschem Publikumserfolg zusammen. Es ist unmöglich, einem Künstler zu sagen, er mache schlechte Kunst, wenn er von den Massen gefeiert wird. Damit beginnt der Verfall. Projekte, die das Publikum anspornen würden, sich weiterzuentwickeln – kritische, tiefe, komplexe Projekte – sind rar.“
Dmitrij Pilikin ist Kunstkritiker und Kurator des Djagilew-Museums für Moderne Kunst an der Sankt Petersburger Staatlichen Universität, deren wissenschaftlicher Mitarbeiter er ist.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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