Virtuelle Friedhöfe im russischen Netz: Cooler Trend oder grobe Pietätlosigkeit?

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WIKTORIA RJABIKOWA
In der virtuellen Welt wird nicht immer pietätvoll getrauert. Manchmal werden die Toten und ihre Hinterbliebenen übel beleidigt. Einige möchten im Netz ihr Leben früher beenden als im wahren Leben.

Krebs, Herzstillstand, Selbstmord durch Erhängen – dies sind einige der kurzen, emotionslosen Beschreibungen zum Tod von Russen aller Altersklassen in den sozialen Netzwerken. Die Bandbreite reicht von der fülligen Frau mit kräftigen Augenbrauen bis zum Schuljungen mit zurückgekämmtem Haar, der ein iPhone in der Hand hält.

Unter jedem Foto steht ein „Todeszertifikat” in Form eines Medienberichtes oder von Nachrichten von Verwandten und Freunden. Und unter jedem Eintrag finden sich Kommentare von „Schmerzlich vermisst, viel zu früh gegangen” bis zu „Ein Glück, dass ich den los bin”.

Todesursache: Krebs
Datum: Unbekannt

Die Trauernachrichten und Beschimpfungen werden unterbrochen von bunt gemischten Werbeanzeigen. Nutzer bieten an, vom Bild des Verstorbenen ein Porträt zu malen, während Onlineshops Bettwäsche oder Hilfe bei der Darlehensrückzahlung anbieten.

So sieht ein virtueller Friedhof im bekannten russischen Netzwerk Vk.com aus. Es gibt Dutzende Communities, eine der beliebtesten hat über 300 000 Mitglieder.

Geschäft mit dem Tod

Niemand weiß mehr, wer die Idee zu Online-Friedhöfen zuerst hatte. Alle Administratoren, meist junge Leute unter 25, erklären, dass sie das Thema Tod fasziniert hätte, nachdem sie selbst solche Seiten in den sozialen Netzwerken gesehen hätten. Daher hätten sie sich entschieden, eine eigene Community ins Leben zu rufen.

Der 20-jährige Elektroingenieur Rasul aus der Stadt Kökschetau in Kasachstan hat seinen virtuellen Friedhof mit 172 000 Abonnenten vor drei Jahren, noch während des Studiums, eingerichtet. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Einträge im Forum auftauchten – von Verwandten und Menschen, die den RIP-Status auf einer Seite oder Trauerflor auf einem Foto gesehen hatten. 70 Prozent der Inhalte generieren die Nutzer selber, die restlichen 30 Prozent findet Rasul in den sozialen Netzwerken und über Medien die Keyword Search Tools nutzen.

Todesursache: Herzstillstand

Datum: Unbekannt

Mit wachsendem Erfolg beschloss Rasul das Werbeangebot von Vk.com für sich zu nutzen. „Die Leute wollen Neues und Ungewöhnliches. Das bekommen Sie von mir, echten Content. Neue Abonnenten kommen über Werbeanzeigen, die ich in anderen Communities schalte und über Mund-zu-Mund-Propaganda”, erklärt Rasul.

Keine ewige Ruhe

Vor Boshaftigkeiten ist man jedoch auch nach dem Tode nicht geschützt. „Dem Verstorbenen alles Gute” oder „Endlich hat er den Löffel abgegeben”, waren einige der Kommentare, die die 33jährige Anna aus Uchta lesen musste, nachdem die Todesanzeige ihres Ehemannes Wasili online veröffentlicht wurde.  

Todesursache: Leukämie

Datum: 07.04.19

„Wen kümmert es?” oder „Der Vollpfosten hat sein Leben weggeworfen” gehören zu den häufigsten Bemerkungen über verstorbene Drogenabhängige, Alkoholiker und Selbstmörder, berichtet einer der Administratoren.  

Anna hält das für unmenschlich: „Ich habe eine Menge Kommentare sofort gelöscht. Auf meinen Wunsch hin wurde die Todesanzeige vom Betreiber gelöscht. Es ist schmerzhaft, all diese Dinge lesen zu müssen, wenn man ohnehin schon sehr aufgewühlt ist.”

Die meisten Administratoren löschen solche Posts und blockieren die Hater. Anfragen zum Beitritt in die Community werden überprüft. Es gibt Bemühungen, den Zugang nur über 18jährigen zu erlauben – im Leben wie im Tod sind es häufiger Kinder als Erwachsene, die sich nicht zu benehmen wissen.

Todesursache: brutal ermordet mit 15 Messerstichen

Datum: Unbekannt

Ein virtueller Friedhof mit 37 000 Abonnenten hat keine Werbeanzeigen und kennt keine gehässigen Kommentare. Dort findet sich nur eine Liste Verstorbener und Worte der Trauer sowie mitfühlender Rat wie man mit dem Verlust des geliebten Menschen umgehen kann. „Wir verdienen damit kein Geld. Die Leute schätzen die einzigartige geschützte Atmosphäre unserer Gruppe”, sagt einer der Betreiber stolz.

Lebendig begraben

Anders als im wahren Leben macht es einigen nichts aus, in der virtuellen Welt lebendig begraben zu werden. Manch einer ist bereit, mehr als 5 000 Rubel zu zahlen, damit sein vermeintliches Ableben in Onlineportalen angezeigt wird, weiß Rasul. Er bekommt jeden Tag zwei bis drei solcher Anfragen, die er aber ablehnt.

Todesursache: Schlaganfall

Datum: 15.03.19

„Die Leute wollen öffentliche Aufmerksamkeit und dass man über sie spricht - wenigstens am Tag nach ihrem virtuellen Tod. Manche sind einfach neugierig, wie die Mitmenschen wohl über sie sprechen, wenn sie denken, man sei tot”, meint Rasul.

Sehr selten wollen Nutzer Bekannte lebendig begraben lassen, entweder aus Rache oder als Spaß. „Für sie ist das nur ein Witz. Ihnen ist nicht klar, was für ein Schock das für Verwandte und Freunde ist, die es für wahr halten. Solche Nutzer werden für immer ausgeschlossen”, stellt Rasul klar.

Der Tod als Unterhaltung

Der Trend, nicht nur den Lebenden, sondern auch den Toten zu folgen, selbst unbekannten, wie in einer Reality-Show, ist der Grund für den Erfolg der virtuellen Friedhöfe, glauben die Betreiber und Follower. „Es ist interessant, etwas über den Verstorbenen herauszufinden, was für eine Person er war, wie er gestorben ist”, sagt Dmitry, der einigen virtuellen Friedhöfen folgt. Die 15jährige Schülerin Anastasia glaubt dagegen, dass Online-Friedhöfe dazu beitragen, dass die Menschen ihr Leben mehr wertschätzen: „Man bekommt mit, wie schnell man sterben kann, etwa wenn man nur ausrutscht oder hinfällt.”  

Todesursache: hat sich nach Streit mit den Eltern erhängt

Datum: 16.02.19

Letztlich helfen den Hinterbliebenen virtuelle Friedhöfe, weil sie hier Unterstützung und Mitgefühl finden, fasst der klinische Psychologe Ruslan Molodzow zusammen.

Was sagt VK?

Die Pressestelle von Vk.com erklärt, dass Angehörige die Seite ihrer Verstorbenen schützen können. Alle Informationen werden nur Freunden zugänglich gemacht. Die Seite bleibt so erhalten wie sie beim letzten Login des Verstorbenen war. Angehörige können beantragen, dass die Seite gelöscht wird. Dazu können sie sich an den Support wenden. Beschimpfungen können gemeldet werden und werden dann gelöscht.

Die Nachnamen der Interviewten wurden auf deren Wunsch nicht veröffentlicht.

>>> Tabuthema: Warum Russen nicht über den Tod sprechen