Die Stadt der klugen Köpfe: Wie lebt es sich im russischen Silicon Valley?

Sergei Poterjajew
Stellen Sie sich eine Stadt voller Computerfreaks vor, die ausschließlich über Messenger kommunizieren und in führerlosen Taxis fahren. Eine solche Stadt der Stille existiert bereits in Tartastan.

Die jüngste Stadt Russlands, Innopolis, wurde als Ort konzipiert, an dem zukünftige IT-Gurus ausgebildet werden und führende Köpfe der Branche arbeiten sollen. Sie liegt rund 40 km entfernt von Kasan am malerischen Wolga-Ufer. 

Die Stadt besteht aus einer Universität, deren Gebäude an ein Raumschiff erinnert, einem Technopark mit „fliegenden Untertassen”, etwa 30 Wohnblöcken, einem Sportkomplex, einem medizinischen Zentrum, einigen Lebensmittelläden und mehreren Cafés auf einer Fläche von insgesamt 2,2 km². Sie wurde 2015 fertiggestellt. 150.000 Menschen sollen hier leben. Bisher hat Innopolis lediglich 3.500 Einwohner, dazu kommen täglich 1.000 Pendler aus Kasan. 

Anfang 2019 waren sogar nur 407 permanente Einwohner registriert. Selbst, wenn alle Studenten und Arbeitskräfte in der Stadt sind, bleiben die Straßen der Stadt leer. Es gibt so gut wie keinen Verkehr und auch kaum Fußgänger. Wo sind alle?

Die Anwohner kommunizieren lieber online und nutzen führerlose Fahrzeuge als kostenlose Transportmittel. Doch wir konnten einige Stadtbewohner erwischen und haben sie gefragt, wie es sich in dieser Geisterstadt lebt.  

Studenten, die die Welt verändern wollen 

Im Inneren ist die Universität noch beeindruckender als von außen: Glaswände, Auditorien, die in der Luft zu schweben scheinen, gemütliche Sitzecken. Der Campus ist weitgehend überdacht.

Hier einen Studienplatz zu bekommen ist nicht leicht. Aktuell gibt es hier 600 Studenten. Sie alle mussten ein strenges Auswahlverfahren überstehen. Da die Unterrichtssprache Englisch ist, mussten sie auch ein Interview in dieser Sprache meistern. Nach Abschluss des Studiums verpflichten sich die Studenten, mindestens ein Jahr in einem der Unternehmen des Technoparks zu arbeiten.

Artschi, ein im Universität-Labor entwickeltes Android

Daniel Atonge, 21, kam aus Kamerun nach Russland und studiert seit einem Jahr in Innopolis. „Die Universität sucht Menschen, die die Welt der Informatik verändern wollen“, sagt er. „Und ich habe schon ein paar Ideen”, fügt er hinzu.

Daniel Atonge

Das rote Sweatshirt mit dem Aufdruck, das er trägt, hat er selbst entworfen. „Eines meiner Projekte ist der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Textilproduktion. Stellen Sie sich vor, sie wollen einen bestimmten Aufdruck auf einem Kleidungsstück haben. Sie teilen ihre Wünsche einer Maschine mit und diese setzt sie um. Dies könnte man zum Beispiel H&M anbieten”, meint er und lächelt dabei. Daniel hat in allen Fächern Bestnoten, wie viele Studenten in Innopolis. „Es gibt einige Bars und Cafés hier, aber ich bleibe abends lieber zu Hause, statt abzuhängen. Ich muss lernen”, sagt Daniel. 

Jekaterina Usbekowa ist 20 Jahre alt. Die fröhliche Rothaarige stammt aus einer kleinen Stadt in Neftekamsk und ihre Leidenschaft ist die Entwicklung von IOS-Anwendungen.

Jekaterina Usbekowa

„Als ich an diese Universität kam, hatte ich keine Ahnung, was mich hier erwartet. Zunächst war ich etwas überfordert mit dem Pensum und hatte Probleme mit der englischen Sprache. Inzwischen ist die Sprachbarriere überwunden. Ich lerne gemeinsam mit Studierenden aus Frankreich, Italien, Spanien, Amerika - es ist sehr cool”, erzählt sie. Manchmal jedoch fühle sie sich einsam: „Alle sitzen allein in ihren Zimmern und lernen und lernen.” Sie selbst hat gerade ihr zweites Jahr abgeschlossen und bereits mehrere Angebote aus dem Technopark erhalten.  

„Ein idealer Platz für diejenigen, die gerne arbeiten und Ruhe und Frieden schätzen” 

Der Technopark ist ein riesiges Business-Center mit vielen Büros auf mehreren Etagen. Hier sitzen die IT-Abteilungen von Groß- und Einzelhändlern, Banken und anderen russischen und internationalen Unternehmen.

„Uns gefällt hier alles, abgesehen vom Wind”, sagt ein großer Mann in einem teuren Anzug. Ernest Syuch, Business Development Senior bei Indusoft, einem Unternehmen, das Softwares für die industrielle Produktion entwickelt, ist auf einer Kurzreise hier. Der Hauptsitz des Unternehmens befindet sich in Moskau.

Ernest Syuch

„Dies ist ein idealer Ort für diejenigen, die Stille und Konzentration lieben, denn jeder Ort hier ist innerhalb von zwei Minuten fußläufig erreichbar und es gibt nichts, was Sie von Ihrer Arbeit ablenken könnte", erklärt er. 

Ein Paradies für die Bewohner? 

Auch in Innopolis leben einige der Bewohner ständig. Sie arbeiten in unterschiedlichen Branchen. Oft sind es die höheren Löhne, die die Arbeitskräfte locken. Ein IT-Spezialist verdient hier so viel wie in Moskau, bei deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten. Viele Unternehmen übernehmen zudem die Miete und die Krankenversicherung für die gesamte Familie ihrer Beschäftigten.

Natalia und Alexander

Natalia und Alexander sind 2016 von Nabereschnyje Tschelny in Tatarstan nach Innopolis gezogen. Sie nahmen eine Hypothek auf, um eine geräumige 145 m²- Wohnung mit zwei Schlafzimmern in einem neuen Wohnblock zu kaufen. Sieben Millionen Rubel, umgerechnet knapp 100.000 Euro, haben sie bezahlt. In Kasan hätte sie eine solche Wohnung 50 Prozent mehr gekostet, in Moskau das Dreifache. Beide arbeiten im Technopark und verreisen sehr gerne.

Sie sind derzeit die einzigen in Innopolis, die ihre Wohnung bei Airbnb anbieten. „Wir bieten Studenten und Besuchern die Möglichkeit, hier zu bleiben. Nur die Erreichbarkeit ist schwierig”, sagt Alexander. Züge halten nicht in Innopolis, daher muss der Umweg über Kasan gemacht werden. 

Auch Natalias Eltern gefiel Innopolis und sie haben in der Nähe ebenfalls eine Wohnung gekauft. An Kommunikationsmöglichkeiten fehlt es dem Ehepaar nicht. Sie sind gut vernetzt in zahlreichen  lokalen Gruppen, die sich alle über Messenger austauschen. Zudem gibt es jederzeit die Möglichkeit, mit einem Concierge-Service in Kontakt zu treten.

Sneschana Alejewa

Sneschana Alejewa arbeitet als Concierge und berichtet von manchmal auch ungewöhnlichen Anfragen. Von „Können Sie mir helfen, die Türe vom Badezimmer zu öffnen” über „Machen Sie bitte die Hausaufgaben meines Kindes” bis zur Frage „Ich fahre nach Kasan, muss ich einen Regenschirm mitnehmen?” ist alles dabei. Wem das nicht reicht oder wer lieber ganz auf persönlichen Kontakt verzichten will, kann sich auch an Inna wenden, einen von den Studenten der Universität entwickelten virtuellen Concierge. 

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