Geteilte Meinungen: Was denken die Moskowiter über die angeordnete Selbstisolation?

Sofja Sandurskaja/Moskva Agency
Die Straßen der russischen Hauptstadt sind verlassen. Online tobt dagegen eine heftige Debatte über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen der Moskauer Stadtregierung gegen eine Ausbreitung des Coronavirus.

Ab dem 30. März hat der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin für alle Einwohner Moskaus unabhängig vom Alter die Selbstisolierung angeordnet (rus). Die Moskowiter dürfen ihr Haus nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Dazu gehören: 

  • eine (dringende) medizinische Notfallversorgung in Anspruch zu nehmen oder im Falle einer anderen unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben;
  • ihre Arbeitsstelle zu erreichen, sofern sie nicht von zu Hause aus arbeiten können;
  • im nächstgelegenen Supermarkt oder der nächstgelegenen Apotheke einkaufen zu gehen;
  • ihre Haustiere auszuführen, jedoch lediglich im Umkreis von 100 Metern um ihren gewöhnlichen Wohn- oder Aufenthaltsort;
  • Müll zu entsorgen.

Am ersten Tag der angeordneten Selbstisolation waren die Straßen der russischen Hauptstadt nahezu menschenleer (rus)

In den sozialen Medien wurde Sobjanins Anordnung unterschiedlich aufgenommen. Es bildeten sich zwei Lager. Einige unterstützen die Moskauer Stadtregierung voll und ganz, während andere von Hausarrest sprechen und die Maßnahmen für unverhältnismäßig halten. 

Der Journalist Dmitri Sokolow-Mitritsch schrieb (rus) auf Facebook: „Ab heute stehen wir alle unter Hausarrest. In einer Woche werden die Masseninsolvenzen und die Arbeitslosigkeit beginnen. Für eine kurze Zeit werden die Menschen von ihren Ersparnissen (wenn sie denn welche haben) leben können. Und dann? 

Dann kommt der Selbsterhaltungstrieb der Eliten ins Spiel. Dann wird dieses Schauspiel so schnell beendet sein, wie es begonnen hat. In Italien und anderen vom Coronavirus heimgesuchten Ländern haben die dortigen Eliten bereits begonnen, darüber zu diskutieren, wie die Quarantäne aufgehoben werden kann, selbst, wenn das Virus noch nicht bekämpft werden konnte. 

Wenn die Lösung des Problems sich womöglich als schlimmer erweist, als das Problem selbst, dann müssen wir einsehen, dass wir das Virus nicht bekämpfen können, sondern lernen müssen, mit ihm zu leben. Genauso wie wir mit Tuberkulose, Syphilis und anderen akuten virusbedingten schweren Atemwegsinfektionen leben, sowie mit der Tatsache, dass die zehn Gebote nicht immer eingehalten werden und der Tod manchmal unvermeidlich ist. 

Doch nach diesem Schaltjahr-Schauspiel wird die Welt nie wieder dieselbe sein. Wir wissen jetzt, was alles möglich ist im 21. Jahrhundert. Wie schnell alles verloren sein kann. Menschen können mit einem Handstreich ihrer Bewegungsfreiheit, ihrer Existenz, ihrer Arbeit, ihrer Zukunftspläne, Perspektiven und Lebensweise beraubt werden. Wenn das einmal funktioniert hat, dann kann das auch nochmal funktionieren“. 

Viele fanden Sokolow-Mitritschs Standpunkt zu radikal. „Die Frage ist, wann und für welchen Zeitraum die Quarantäne verhängt wurde. Wenn sie den Höhepunkt der Ausbreitung der Infektion abdeckt, ist sie völlig gerechtfertigt. Es geht um die erfolgreiche Anwendung mathematischer Statistiken und nicht um politische Fragen“, kommentierte der Facebook-Nutzer Wladimir Grafski.

Einige Moskauer haben eine ambivalente Haltung zu den Maßnahmen. Sie befürworten sie einerseits, äußern aber auch Kritik. „Eine strikte Quarantäne ist die richtige Maßnahme, aber sie kommt sehr spät. Die Entschädigung für diejenigen, die ihre Arbeit verlieren werden, ist zu gering. Die Quarantäne als ‚Selbstisolierung‘ und die ‚Entschädigung‘ als Entlohnung zu definieren, ist Schönfärberei. Zudem gibt es keine Konzepte, wie Unternehmen oder diejenigen, die auf Teilzeitbeschäftigung umsteigen mussten, für ihre Verluste entschädigt werden“, erklärte (rus) das Oppositionsmitglied Leonid Wolkow auf Twitter.

Die Moskauer Behörden selbst verwenden den Begriff „Quarantäne“ nicht. Darüber macht sich das Netz ebenfalls lustig. „Es ist ziemlich amüsant, dass sie diesen schwachsinnigen Begriff ‚Selbstisolation‘ weiter verbreiten. Da steckt diese Eigenständigkeit drin. Doch wie eigenständig ist die Entscheidung zu Hause zu bleiben, wenn es verboten ist, das Zuhause zu verlassen? Im Grunde ist das nicht wichtig. Nun, es ist jedoch wichtig, dass diese Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden“, schrieb (rus) @michaelnacke auf Twitter.

Angesichts der Tatsache, dass viele Moskowiter (trotz der Appelle der Behörden) am Tag vor Beginn der angeordneten Selbstisolation weiterhin zum Beispiel Picknick im Freien veranstalteten, ist die Zustimmung zu den Maßnahmen der Stadtregierung inzwischen hoch.

„Zuerst haben sich alle beschwert, dass nur ‚arbeitsfrei‘ statt Quarantäne angeordnet wurde. Nun jammern alle, dass eine Quarantäne verhängt und die Freiheit der Menschen somit eingeschränkt wurde. [...] Doch wenn man sich die Bilder voller Parks betrachtet, war die Entscheidung zwar spät, aber absolut richtig“, meint (rus) @ripavika.

Manch einem gehen die Maßnahmen sogar nicht weit genug. Sie beklagen, dass es kein Verbot gibt, die Stadt zu verlassen. In Moskau gibt es aktuell die höchsten Fallzahlen einer bestätigten Coronavirus-Infektion. 

„Wenn es stimmt, dass man auch weiter die Stadt verlassen darf, ist diese Selbstisolation wirklich eine sinnlose halbe Sache. Es wird immer Leute geben, die einen Ausflug in die benachbarte Region machen werden“, so (rus) @yaisatshima auf Twitter.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich ebenfalls zu den getroffenen Maßnahmen geäußert (rus). Er unterstützte die Entscheidung des Moskauer Bürgermeisters und beschrieb die Beschränkungen als „gerechtfertigte und notwendige Maßnahme für ein riesiges städtisches Ballungsgebiet mit vielen Millionen Einwohnern“. 

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