Mitte September zeigte der Surfer Anton Morosow nach einem Surftrip bei Kamtschatka seltsame Symptome: er hatte trockene und schmerzende Augen, er sah nur noch verschwommen und er klagte über Halsschmerzen und geschwollene Gelenke. Morosow war schon häufig zum Surfen am Strand von Chalaktyrsky auf Kamtschatka, der „Visitenkarte“ der Halbinsel. Doch so etwas hatte er noch nie erlebt. Das Wasser des Ozeans schmeckte bitter, nicht salzig. „Nach einer Weile zeigten alle 20 Personen im Camp Symptome. Wir hielten es für eine Darminfektion. Wir haben so etwas noch nicht erlebt“, beschrieb (rus) Morosow.
Die Surfer dachten, das sei eine Reaktion auf biologische Prozesse im Ozean. Alle warteten auf einen Sturm, der hoffentlich alles wieder klären würde. Der Sturm kam am 29. September. Doch es wurde nicht besser, sondern im Gegenteil. In den sozialen Netzwerken tauchten mehr und mehr Fotos und Videos von verschiedenen Küstenabschnitten der Halbinsel auf, auf denen Hunderte tote Meerestiere zu sehen waren.
Laut Morosow habe sich das Wasser immer weiter seltsam entwickelt: Es wurde zäher und trüber. Selbst Menschen, die gar keinen Kontakt mit dem Meer hatten, zeigten plötzlich ähnliche Symptome wie er. Am Tag des Sturms kamen Spezialisten auf die Halbinsel, um Proben zu nehmen. Die Proben ergaben, dass das Wasser doppelt so viel Phenol und viermal so viel Öl enthielt wie Ölprodukte. Dies reichte jedoch als Erklärung nicht aus und auch die Ursache konnte nicht gefunden werden.
Am 4. Oktober wurden weitere 250 kg Material zur Untersuchung nach Moskau geschickt, darunter Proben von Wasser, Sand und toten Tieren.
Offizielle Versionen
Bisher haben die Behörden von Kamtschatka drei mögliche Erklärungen veröffentlicht (rus). Es könnte sich demnach zum Beispiel um eine Verunreinigung durch das Einbringen giftiger Substanzen handeln. „Bei der Probenentnahme zeigte sich eine ölige, hellgelbe Substanz. Das deutet nach Ansicht meiner Kollegen auf einen Schadstoff im Wasser hin, der ähnliche Eigenschaften wie Industrieöl hat“, sagte Aleksei Kumarkow, der Regionalminister für natürliche Ressourcen und Ökologie. Phenole kommen in Russland häufig bei der Ölraffination zum Einsatz.
Andere Versionen gehen von einem natürlichen Phänomen ohne menschlichen Einfluss aus. „Eine Erklärung besagt, dass Algen eine Rolle spielen, die beim Sturm an die Küste gelangt sind“, so der Gouverneur von Kamtschatka, Wladimir Solodow, während eines Briefings. Eine dritte Version vermutet die hohe seismische Aktivität in der Vulkan-Region als Ursache.
Die Einheimischen haben ihre eigenen Theorien. Beispielsweise soll die Verschmutzung auf ein Auslaufen von Raketentreibstoff von einer Militärbasis oder von Schadstoffen einer nahe gelegenen Pestiziddeponie zurückzuführen sein.
Chemische Erklärungen
„Etwa zur gleichen Zeit, als erstmals von Symptomen berichtet wurde, fanden am Strand von Chalaktyrsky und im angrenzenden Gewässer Militärübungen statt“, schrieb (rus) Jekaterina Dyba, Administratorin der Surfschule und eine der Betroffenen, auf Facebook.
Dies hat mit dem nahe gelegenen U-Boot-Marinestützpunkt zu tun, der 50 Kilometer vom Strand entfernt liegt. Der Raketenabschussplatz von Radygino, auf dem die Übungen stattfanden, ist sogar nur 18 Kilometer entfernt. Dort lagern seit 1998 rund 300 Tonnen Raketentreibstoff.
Das Militärkommando der russischen Pazifikflotte erklärte (rus) jedoch, seit Juni hätten in Radygino und in den regionalen Gewässern „keine Übungen mit schwerem militärischem Gerät“ stattgefunden. Dennoch machen anonyme Quellen (rus) der Zeitung „Nowaja Gaseta“ ein Kraftstoffleck in Radygino verantwortlich.
Auch die Pestiziddeponie in Koselsk käme als Verursacher in Frage, heißt es. Greenpeace veröffentlichte Satellitenaufnahmen des Flusses Chalaktyrka, der in den Ozean mündet. Am 9. September hatte der Fluss eine ungesund aussehende gelbliche Färbung. Die Deponie liegt am Ufer des Nalytschewa, eines Nebenflusses. Es gibt kaum zugängliche Informationen zur Deponie. Bekannt ist nur, dass dort auch tonnenweise Giftmüll gelagert wird.
„Ich war überrascht zu erfahren, dass die Koselski-Deponie, nicht in die Zuständigkeit einer Regierungsbehörde fällt. Wir werden das korrigieren und einen rechtlichen Status zuweisen, um festzustellen, wer dort verantwortlich ist“, erklärte Wladimir Solodow am 5. Oktober. Dass Solodow, der erst im April von Jakutien nach Kamtschatka kam, nicht Bescheid weiß, ist teilweise zu entschuldigen, da er noch nicht lange im Amt des Gouverneurs ist.
Der WWF Russland geht von einer Verunreinigung durch giftige Substanzen aus. Die Verschmutzung scheint nicht nur oberflächlich zu sein. Bei einer Ölpest läge das Öl nur auf der Wasseroberfläche. Indirekte Beweise dafür sind, dass auch am Grund lebende Tier- und Pflanzenarten, die in einigen Gebieten an Land gespült wurden, stark gelitten haben.
„Fotos zeigen Rotalgen. Diese Art kommt in Tiefen von 15 Metern und mehr vor und ist resistent gegenüber Stürmen. Sie gelangen nur in äußerst seltenen Fällen in Ufernähe und keinesfalls in so großen Mengen. Persönlich habe ich sie noch nie an der Küste entdeckt“, sagt der Biologe Dr. Sergei Korostelew, Koordinator des WWF-Russland-Programms für nachhaltige Meeresfischerei. „Gleiches gilt für Gastropoden, deren Muscheln normalerweise leer ans Ufer getragen werden. Hier sehen wir aber eine Muschel mit einer toten Molluske.“
Greenpeace-Aktivisten machten auch Verschmutzungen im Wasser vor der Küste von Kamtschatka aus. „Wir haben an verschiedenen Stellen einen gelblichen Schaum auf der Meeresoberfläche beobachtet. Das Wasser ist undurchsichtig. An einem Ort fanden wir tote Tiere. Der Schaumteppich bewegt sich entlang der Küste. Er ist nicht nur oberflächlich“, so Wassili Jablokow, Leiter des Klimaprojekts von Greenpeace Russland.
„Es ist kein Ölteppich, sondern der Zufluss von frischem Wasser in salziges“, erklärte der Gouverneur die Greenpeace-Bilder. Er bestätigte die Verschmutzung und den Tod von Meereslebewesen, betonte jedoch, dass in Bezug auf größere Tiere lediglich vier Robben betroffen waren. Eine war körperlich entstellt.
Das Ausmaß der Katastrophe
Da niemand die tatsächliche Anzahl toter und verletzter Meerestiere gezählt hat, kann das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe noch nicht bewertet werden.
„Der Сhalaktyrsky Strand ist ein sehr beliebter Ort bei Touristen und Einheimischen. Jeder kommt mit einem Smartphone und Kamera. Es gibt jedoch nur drei Videos [online im Umlauf, Anm. d. Red.]. Warum so wenige? Sind alle blind? Oder ist bei allen gleichzeitig die Kamera ausgefallen? Die logischste Antwort ist, dass es dort weder ‚Tausende von toten Tieren‘ noch einen ‚Friedhof der Meerestiere‘ oder eine ‚ökologische Katastrophe‘ gab“, äußerte sich (rus) auf Facebook zweifelnd die Anwältin Galina Antonez aus Wladiwostok, die sich zur fraglichen Zeit auf der Halbinsel aufhielt.
Andere Augenzeugen bestätigen (rus), dass es vor Ort keine Massen an toten Tiere gebe. Einer dieser Augenzeugen ist der Chefredakteur von Russia Beyond, Wsewolod Pulja, der auf einer Arbeitsreise in Kamtschatka war: „Ich bin am Strand von Chalaktyrsky entlang gelaufen, insgesamt etwa vier Kilometer und sah kein gelbes Wasser oder roch etwas Unangenehmes. Meine Kollegen, die ungefähr zur gleichen Zeit näher am Kap Majatschny waren, sagten jedoch, sie hätten durchaus einen unangenehmen Geruch vom Meer aus wahrgenommen, der ihnen Kopfschmerzen bereitet habe.“ Pulja hat am Strand keine toten Großtiere wie Tintenfische oder Robben entdeckt, lediglich „an einigen Stellen kleine Fische und Weichtiere“, die aber äußerlich unversehrt wirkten.