Die Geschichte der Verschmutzung des Pazifischen Ozeans vor Kamtschatka löste Mitte September einen Aufschrei aus, nachdem sich Surfer über brennende Augen, Übelkeit und Vergiftungssymptome beklagten. Zur gleichen Zeit fanden die Einheimischen an Kamtschatkas „Prunkstück“, dem Chalaktyrsky Strand, die Überreste von Hunderten von Tieren und Weichtieren aus dem Meer. Greenpeace entdeckte vor der Küste Ansammlungen von Schlick unbekannter Herkunft und einen gelben Schaum. Das alles war nicht nur an der Oberfläche, sondern auch unter Wasser.
Es gab verschiedene Erklärungsansätze, was mit dem Ozean passiert sein könnte. Auf Satellitenbildern waren bereits am 9. September Anzeichen von Verschmutzung in der Nähe einer Anlage für giftige chemische Abfälle zu beobachten (rus).
Nachdem nun Proben entnommen und zahlreiche Untersuchungen durchgeführt wurden, scheint die Ursache festzustehen. Für Nichtfachleute ist sie jedoch nicht eindeutig nachvollziehbar.
Wissenschaftler der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) haben chemische Verunreinigungen als Ursache ausgeschlossen (rus). „Nach und nach wurde durch die durchgeführten Tests eine Verursachung durch den Menschen ausgeschlossen. Die Untersuchungen wurden von unseren Labors sowie bei Rosprirodnadzor (Föderaler Dienst zur Überwachung der natürlichen Ressourcen) und Rospotrebnadzor (Föderale Verbraucherschutzbehörde) durchgeführt. Sie haben das gleiche Ergebnis gebracht: es ist keine signifikant erhöhte Menge gefährlicher chemischer Substanzen festzustellen“, sagte RAN-Vizepräsident Andrei Adrianow.
Gleichwohl zeigten die Proben, dass in einigen Fällen Petro-Kohlenwasserstoffe, Phenole, Eisen und andere mit der Ölverarbeitung verbundene Substanzen um ein Vielfaches über den üblichen Grenzwerten lagen. Doch laut Adrianow hätte dies nicht zu dem vor Kamtschatka beobachteten Massensterben von Wasserorganismen führen können.
Es hat sich bei den Untersuchungen kein Hinweis ergeben, dass die Verschmutzung durch den Austritt von Heptyl, einem hochgiftigen Raketentreibstoff, vom Testgelände Radygino verursacht wurde, wie Greenpeace Anfang Oktober vermutet hatte.
Auch eine radioaktive Verseuchung infolge eines Lecks bei der Kozelsk-Abfallentsorgungsanlage konnte ausgeschlossen werden ebenso wie seismische Aktivität oder die Verklappung durch vorbeifahrende Schiffe. Die Fernöstliche Föderale Universität, die einen eigenen Expeditionstrupp zum Ort des Geschehens schickte, kam zu den gleichen Ergebnissen. Vizepräsident, Dmitri Semzow veröffentlichte auf Facebook einen kurzen Bericht (rus) über die Ergebnisse der Expedition. Ebenso wie andere Akademiker und Aufsichtsbehörden gelangte sie zu einer plausiblen Erklärung.
Die Ursache sei eine sogenannte „Rote Flut“, ein Begriff, der eine vermehrte Algenblüte beschreibt. Bei der außergewöhnlich schnellen Vermehrung von Mikroalgen werden giftige Toxine produziert. Bei dem Vorfall in Kamtschatka wurden Toxine von Algen der Gattung Gymnodinium freigesetzt. „Sie können verschiedene Toxine freisetzen. Diese schädigen vor allem wirbellose Tiere“, erklärt (rus) der Vizepräsident der Russischen Akademie der Wissenschaften.
In Proben wurden hohe Konzentrationen dieser Toxine nachgewiesen, was die Hypothese stützt. Darüber hinaus ist ein gelber Schaum, wie er von Augenzeugen beobachtet wurde, ebenfalls charakteristisch für die Blüte von Mikroalgen.
Diese Schlussfolgerung stößt bei Menschen, die bis heute noch nie vom Phänomen der „Roten Flut“ gehört haben auf Skepsis. „Mir ist klar, dass eine Erklärung wie diese komisch klingt und sich eher wie ‚Fake News‘ liest. Doch je mehr wir den Wissenschaftlern zuhören und lernen, desto mehr erkennen wir, wie wenig wir über die Ozeane wissen“, sagte (rus) Wladimir Solodow, der Gouverneur von Kamtschatka.
Weil sich die Algenblüte nicht immer eindeutig bemerkbar macht, gab es keine Warnungen, sagt (rus) die Biologin Tatjana Orlowa in einem Interview mit der Nachrichten-Webseite „Meduza“. Sie beschäftigt sich schon sehr lange mit dem Phänomen der „Roten Flut“.
„Wir beobachten ‚Rote Fluten‘ Jahr für Jahr in Kamtschatka. Es gibt nichts Außergewöhnliches an dem, was in Kamtschatka passiert ist. Es ist ein globales Problem. Dieses Phänomen ist weltweit regelmäßig anzutreffen“, sagt sie. „Aber es ist wichtig zu wissen, dass es nicht immer möglich ist, sie vorherzusagen. Manchmal bleibt das Phänomen auch unbemerkt, wenn es keine Strömung gibt, die tote Kreaturen an die Küste trägt.“
In Kamtschatka gibt es viele verlassene Küsten, und ohne bestimmte Windverhältnisse, die Surfer angelockt haben, wäre die Algenblüte wohl auch diesmal unbemerkt geblieben und es hätte keine Warnung an die Öffentlichkeit gegeben. Das Wasser wird übrigens nicht immer rot. Laut Orlowa war die Algenblüte in Kamtschatka diesmal nicht so weit verbreitet, dass sie auf Satellitenbildern eindeutig erkannt werden konnte. Um sie zu identifizieren, mussten Wasserproben entnommen werden - und genau das geschah, nachdem das Mikrobiom am Ufer angespült worden war.
Diese Mikroalgen sind per se nicht gefährlich und liefern Nahrung für alle Lebewesen im Ozean. Sie sind vergleichbar mit Gras. Aber zu einem bestimmten Zeitpunkt können sie „ein ganzes Spektrum bösartiger Stoffe und alle möglichen Toxine“ produzieren. Und sie können für Menschen direkt oder indirekt tödlich sein.
Nicht jeder glaubt an die Theorie der Algenblüte als Hauptursache der Katastrophe. Zehn Kilometer nördlich des Chalaktyrsky Strandes wurden keine für eine „Rote Flut“ charakteristischen Toxine entdeckt. „Die Kontamination war also lokalisiert, und selbst wenn die Algen schuld waren, wurde ihre Vermehrung wahrscheinlich beschleunigt, zum Beispiel durch Pestizide aus einem Leck aus der Kozelsk-Mülldeponie“, mutmaßt (rus) der Hydrogeologe und Ökologe Georgi Kawanosjan.
„Zum Beispiel könnte die Verschmutzung, die jeder bemerkt hat, sekundär gewesen sein, aber was diente als primärer Schadstoff und was löste die nachfolgenden Prozesse aus?“, fragt sich auch Wassili Jablokow von Greenpeace Russland. Greenpeace hat jedoch keine undichten Stellen an in Frage kommenden Anlagen identifizieren können.
Auch die Umweltorganisation WWF hält eindeutige Schlussfolgerungen nach den vorliegenden Informationen für nicht möglich: „Bisher gibt es keine Informationen über einen bestimmten vom Menschen verursachten Schadstoff oder ein bestimmtes natürliches Toxin.“
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