Ein junger Brünetter mit einer Sporttasche auf der Schulter geht selbstbewusst durch die langen, hellen Gänge. An fast allen Wänden sind Bildern russischer Gymnastinnen zu sehen.
„Wird auch dein Bild da bald hängen?“, frage ich den Mann.
„Das ist noch ein weiter Weg“, antwortet er selbstkritisch.
Fünf Jahre lang, sechs Tage in der Woche, ist der 21-jährige Bulat Sungatulin, Trainer und russischer Meister 2021, auf diesen Fluren unterwegs. Sein Ziel: Olympiasieger werden und das Ansehen der Rhythmische Sportgymnastik der Männer verbessern.
Klischees erschweren die Öffentlichkeitsarbeit. Ende Juli 2021 kritisierte Tatjana Nawka, die Eistanz-Olympiasiegerin von Turin 2006 und Ehefrau des Pressesekretärs des russischen Präsidenten, die Leistung des spanischen Sportgymnasten Christofer Benitez.
„Ich habe immer gedacht, dass die rhythmische Sportgymnastik ein herrlicher, schöner und weiblicher Sport ist, aber das hier... Ich bin wirklich froh, dass es so etwas in unserem Land nicht gibt und hoffentlich auch nie geben wird. Männer werden Männer und Frauen werden Frauen bleiben! Und meine Kinder werden das nie sehen und denken, dass das die Norm sei“, schrieb Nawka auf Instagram.
Rhythmische Sportgymnastik der Männer wird sogar an mehreren russischen Sportschulen unterrichtet. Dazu gehört auch das Gymnastikzentrum von Olympiasiegerin Julia Barsukowa in Kasan, wo Bulat Sungatulin trainiert und unterrichtet. Ihre Zöglinge zeigen ganz andere Leistungen als die provokativen spanischen Sportgymnasten. Aber auch die russischen Kollegen kämpfen jeden Tag gegen Klischees an und beweisen, dass ihre Sportart nichts mit Weiblichkeit zu tun haben muss.
Der dornige Weg der rhythmischen Sportgymnastik der Männer
Die rhythmische Sportgymnastik der Männer wurde in Russland in den frühen Zweitausenderjahren geboren. 2005 wurde der Sportgymnast Alexander Buklow (heute Leiter des russischen Teams für rhythmische Sportgymnastik) in Tokio Weltmeister. Zwei Jahre später, im Jahr 2007, eröffnete die Priwolschanka-Gymnastikschule in Kasan eine Sektion für rhythmische Sportgymnastik der Männer. Bulat Sungatulin, dessen Mutter an der Schule arbeitete, war als Fünfjähriger einer der ersten Schüler.
Eine stürmische Entwicklung war dieser Richtung jedoch nicht vergönnt – die Sportgymnasten wurden hauptsächlich zu kommerziellen Turnieren eingeladen (bei denen sie selbst das Startgeld zahlen mussten) und so verließen viele frustriert diesen Sport. Auch Bulat gab 2014 die Sportgymnastik zwischenzeitlich auf und begann mit dem Fußball. Aber 2017 kehrte er zurück und zwar in das Zentrum der Olympiasiegerin Julia Barsukowa, die diesen Sport für die Männer wiederbelebt hatte. Die Anwerbung neuer Schüler sei schwierig gewesen – auch hier habe das Klischee-Denken der Eltern im Weg gestanden, sagt die Sportgymnastin und Akrobatiktrainerin Rauschanja Gabitowa.
„Jetzt können wir die Jungen bereits mit 4 – 5 Jahren aufnehmen, denn die Sportgymnastik der Männer ist inzwischen bekannt, aber sie steht in unserer Schule immer noch an letzter Stelle, was die Beliebtheit betrifft. Wir haben also noch viel vor uns“, gibt sich Gabitowa optimistisch.
Der Kampf zwischen der „japanischen“ und der „spanischen“ Schule
In der Rhythmischen Sportgymnastik der Männer gebe es zwei Schulen: die spanische und die japanische, erläutert Gabitowa. In der spanischen Version führen die Jungen die gleichen Elemente wie die Mädchen aus – mit Bändern, Bällen, Reifen und Keulen. Die japanische Schule hingegen basiert auf Elementen des Kampfsports und legt den Schwerpunkt auf Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer.
„Wir befassen uns nicht mit der spanischen Schule und schenken ihr keine Aufmerksamkeit. Ich habe nichts gegen sie, aber wir entwickeln die Sportgymnastik nach dem japanischem Vorbild – das ist Männlichkeit, das ist Akrobatik. Die Jungen sagen, dass sei nicht einfach – man brauche dafür Puste und Durchhaltevermögen, um die Elemente zu schaffen. Es ist nicht richtig, diese beiden Schulen miteinander zu vergleichen, denn sie sind völlig unterschiedlich“, sagt Rauschanja.
Bulat selbst bezeichnet sich als den „größten Gegner“ der spanischen Schule. „Für mich ist das widerwärtig und seltsam, ich kann das nicht akzeptieren. Ich habe schon als Kind mit Mädchen geturnt. Und was Mädchen in der rhythmischen Sportgymnastik machen, muss für Jungen unnatürlich sein. Wir zeigen keine Plastizität, wir haben keine extreme Dehnbarkeit, wir können uns nicht nach hinten umklappen – wir zeigen Kraft und Ausdauer, aber keine weiblichen Elemente“, argumentiert er.
Die Schüler der Kasaner Schule trainieren fast täglich: Akrobatik, Choreografie sowie Elemente mit Reifen, Seil und Keulen. Das Training dauert drei bis vier Stunden, einschließlich Dehnung, Aufwärmung und allgemeine körperliche Vorbereitung. Der Unterricht kostet 4.000 Rubel (46 Euro) pro Monat, aber wer hervorragende Leistungen erbringt, dem wird das Training vom Staat bezahlt oder er erhält einen Rabatt eingeräumt.
Bei den Wettkämpfen treten die Jungen sowohl einzeln als auch in der Gruppe sowie im gemischten Doppel mit Mädchen an – sie werden genauso streng bewertet und erhalten Punktabzüge für Stürze, Fallenlassen des Handgeräts oder Übertreten der Matte. Niemand verbietet Strasssteine in den Kostümen der Männer, aber laut Gabitowa entscheiden die Jungen sich selbst für schlichte und maskuline Kleidung.
Die Gymnasten aus Kasan haben an mehreren interregionalen und gesamtrussischen Wettbewerben teilgenommen und im Januar 2021 die erste russische Meisterschaft in rhythmischer Sportgymnastik der Männer gewonnen. „Es ist cool, es ist spektakulär, aber es gibt immer noch nur wenige Sportgymnasten, zu denen man aufschauen kann. Es wird noch lange dauern, wahrscheinlich noch Dutzende Jahre. 2022 wird ein internationales Turnier in Japan stattfinden, aber dafür müssen wir uns erst noch qualifizieren. Also müssen wir in den nächsten sechs Monaten hart arbeiten“, so Gabitowa abschließend.
Russischer Meister mit heimlichen Verletzungen
„Das Startsignal, die Musik setzt ein, ich verliere gleich die Keule, laufe zu ihr hin, werde nervös und werfe sie versehentlich noch weiter weg. Fünfzehn Sekunden vergehen und ich habe die Übung vergessen. Ich habe nicht einmal das Video von diesem Auftritt aufbewahrt. Damals war ich 16 Jahre alt“, erinnert sich Bulat Sungatulin an seine Leistung bei den Meisterschaften der Föderationskreise 2017 – zwei Wochen nach seiner Rückkehr in den Sport.
In seinen ersten Trainingseinheiten fühlte sich Bulat wie das „hässliche Entlein“ unter den jüngeren Gymnasten. Er gibt auch zu, dass er damals zu impulsiv war und im Training aus Wut die Reifen und Keulen durch die Gegend geworfen habe.
„Im Fußball sind die Muskeln stahlhart, aber hier braucht man eine große Plastizität. In der Folge litt ich zwei Jahre lang unter Schmerzen in den Beinen, selbst das Gehen tat weh. Ich wickelte Tapeverbände um meine Beine und nahm Schmerzmittel. Der Schule widmete ich nicht mehr viel Aufmerksamkeit, bestand aber die Abschlussprüfung ohne Nachhilfe und bekam mein Abiturzeugnis, und das war's. [Im Sport] jedoch blühte ich auf, für mich gab es nichts außer dem Training“, erinnert sich Sungatulin.
Nach der Schule arbeitete er an der Staatlichen Akademie für Körperkultur der Wolgaregion als Trainer für rhythmische Sportgymnastik. 2019 begann Sungatulin, den Nachwuchs zu trainieren. „Wir nahmen damals 16 Kinder auf. Um den Eltern den Sport näher zu bringen, führten wir eine Präsentation für sie durch, bei der die einzelnen Richtungen vorgestellt wurden. Ich trat auf, wandte mich dann an die Eltern und die sagten: ,Alles ist in Ordnung, wir sind einverstanden – das ist nicht das, was wir dachtenʻ“, erinnert sich Sungatulin.
Anfang 2020, einen Monat vor einem Schauwettkampf in Ungarn, verletzte sich Bulat beim Fußballspielen – er kickte in seiner Freizeit weiter, um die negative Stimmung abzuschütteln, die sich während des Gymnastiktrainings aufgebaut hatte. „Sie sagten mir, ich solle mich mindestens drei Monate lang schonen. Ich wollte dem Trainer nicht gestehen, dass ich mich beim Fußball verletzt hatte und bat darum, im Attest zu vermerken, dass ich ausgerutscht und gestürzt war“, erzählt Bulat von der Verletzung.
Bulat ging vierzehn Tage lang zur Physiotherapie. Er trat in Ungarn mit der Verletzung an, sagte die nächsten Wettkämpfe ab und erholte sich im Winter und Frühjahr 2020 heimlich in der Quarantäne.
Auf die Allrussischen Meisterschaften 2021 bereitete sich Bulat zwei Monate lang vor – er kam um 9 Uhr morgens in die Sporthalle und verließ sie um 20:30 Uhr, wobei er am Nachmittag eine zweistündige Pause einlegte. Er gewann alle seine Wettkämpfe und wurde mit dem Titel Anwärter auf den Meister des Sports ausgezeichnet. Er war damit der erste männliche Sportler in der rhythmische Sportgymnastik in Russland – Mädchen können diesen Titel bereits im Alter von 12 – 13 Jahren erhalten.
Kampf gegen Ablehnung und Träume von den Olympischen Spielen
Manchmal werden Bulat und andere Sportgymnasten in den sozialen Medien aufgrund von Unwissenheit negativ beurteilt. Vor drei Jahren sei er auf Hasskommentare gestoßen, und es habe mehrere Jahre gedauert, bis er die Einstellung der Öffentlichkeit zur rhythmischen Sportgymnastik ändern konnte.
Dennoch kann man unter den Videos einiger Sportgymnasten immer noch solche Bemerkungen wie „Das ist irgendwie unmännlich“ oder „Zu verweichlicht“ lesen. „Es kotzt einen an, aber dann schließt man die Augen und macht sich an die Arbeit“, erklärt Sungatulin, wie er auf die Hasskommentare reagiert.
Der Sportgymnast hofft, dass bis zu den Olympischen Spielen 2024 die rhythmische Sportgymnastik der Männer in die Liste der olympischen Disziplinen aufgenommen wird und er daran teilnehmen können wird.