Als ich morgens mit dem Bus zur U-Bahn-Station fuhr, stand ich an der Tür und schaute auf mein Handy, als ich ohne Vorwarnung einen ziemlich harten Schlag in die Seite bekam. Dies geschah durch eine Frau in den 70ern, die ihr Handeln damit begründete, dass sie nicht gesehen habe, wie ich mich „im ausreichenden Maße auf das Aussteigen vorbereitet habe“.
Vielleicht haben Sie gesehen, wie Russen von ihren Sitzen im Flugzeug aufsprangen und sich im Gang drängelten, um so schnell wie möglich auszusteigen. Manchmal müssen sie ziemlich lange stehen, aber sie setzen sich nicht mehr, aus Angst, nicht die Ersten zu sein.
Die gleiche Szene wiederholt sich in fast jedem Bus, Zug und jeder Straßenbahn. In Russland ist es durchaus üblich, dass man sich vom Sitz erhebt und ein paar Haltestellen lang steht, nur um ein paar Sekunden früher auszusteigen. Absurd? Das mag sein, aber es hat seine Gründe.
Kurz vor dem Zusammenbruch der UdSSR, Anfang 1991, beschloss Gorbatschow eine Währungsreform – die Verringerung der Anzahl der in Umlauf befindlichen Banknoten, um die Inflation zu verringern. Über die Unterzeichnung des Dokuments, wonach die größten im Umlauf befindlichen Banknoten – 100- und 50 Rubel-Scheine – aus dem Verkehr gezogen werden, wurde in den Abendnachrichten um 21 Uhr berichtet. Der Umtausch sollte innerhalb von drei Tagen erfolgen, in der heimlichen Hoffnung, dass die Bürger einfach keine Zeit haben würden, ihre Ersparnisse in kleinere Scheine umzutauschen. Diejenigen, die es geschafft hatten, ihr Geld zu retten, waren diejenigen, die die Nachricht gesehen hatten und sofort los gerannt waren, um ihre 50- und 100-Rubel-Banknoten an U-Bahn-Kassen, Bahnhöfen und bei Taxifahrern umtauschten (viele beschäftigten Kassierer und Taxifahrer wussten noch nichts von dem Erlass). Am nächsten Morgen herrschte Hysterie, als die Nachricht im ganzen Land bekannt geworden war.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Sowjetunion die unerwartetsten und lebensverändernden Reformen im Handumdrehen durchführte – ohne die Öffentlichkeit zu konsultieren oder vorher zu warnen. Man kann nicht behaupten, dass dies im vorrevolutionären Russland unüblich gewesen wäre: Die Behörden kündigten den Bürgern wichtige Veränderungen oft äußerst kurzfristig an. Eigentlich gab der Staat seinen Bürgern solche Veränderungen oft erst bekannt, kurz nachdem sie eingetreten waren. Auf diese Weise erfuhren beispielsweise die Bauern und Grundherren von der Bauernreform von 1861, die für den größten Teil der Bevölkerung eine schreckliche und verhängnisvolle Überraschung war.
Die politische Kultur der öffentlichen Diskussion, der Wetsche-Versammlungen und des Semskyj Sobors gehörte in Russland mit der endgültigen Errichtung des Absolutismus unter Alexej Michailowitsch und seinem Sohn Peter dem Großen der Vergangenheit an. Ungefähr ab dieser Zeit übernahm der Staat die „väterliche“ Fürsorge für seine Bürger, indem er versuchte, jeden Aspekt ihres Lebens zu regeln (was Peter in seinen Edikten besonders wichtig war) und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es niemanden gäbe, an den man sich um Hilfe wenden könne, außer an die zentrale Behörde. Außerdem war die gesamte Machtstruktur in Russland auf den Zaren fixiert, der sowohl der höchste zivile und militärische Beamte als auch der göttliche Vorsteher für ganz Russland war. Jahrhundertelang wurde der Wille des obersten Herrschers von den einfachen Menschen als unumstößlich und unaufhaltsam empfunden.
Der zweite Faktor waren und sind die riesigen russischen Entfernungen. Im 18. Jahrhundert drang beispielsweise die Nachricht vom Tod eines Zaren und die Thronbesteigung seines Nachfolgers in Petersburg frühestens sechs Monate nach den Ereignissen in den Fernen Osten. Wenn das die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung war, kann man sich vorstellen, wie lange eine Reise dauerte.
Es gibt noch viele Orte in Russland, an denen Sie auch heute noch zu hören bekommen: „Der Bus kommt heute, wann genau, ist jedoch unbekannt. Aber es wird auf jeden Fall kommen.“ Daran muss man sich gewöhnen. Daher eine weitere seltsame russische Angewohnheit: 3-4 Stunden vor dem Abflug am Flughafen anzukommen, aus Angst, man könne aus irgendeinem Grund seinen Flug verpassen. Man weiß ja nie, was passieren kann.
Zu Sowjetzeiten wurde die Situation durch die Planwirtschaft und die Verteilung von Waren und Dienstleistungen noch verschärft. Mit der Verpflichtung zur totalen Kontrolle aller Lebensbereiche der Bevölkerung, der Abschaffung des Privateigentums und des Unternehmertums übernahm sich die Sowjetmacht ganz offensichtlich – daher das Phänomen der sowjetischen Warteschlangen, in denen man zwei bis drei Tage lang „stehen“ konnte. Tatsächlich gingen die Leute nachts nach Hause und die Reihenfolge in der Warteschlange wurde jeden Morgen anhand der Nummern, die die Kunden selbst vergeben hatten, wiederhergestellt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die „Schlusslichter“ der Schlange blieben jedoch fast immer ohne die heißbegehrte Ware – daher der ewige Wunsch des Sowjetmenschen, vorzudrängeln. Dieser Drang wurde von klein auf genährt, als viele von ihnen mit ihren Eltern und Großmüttern in der Schlange stehen mussten, um einen Platz zu „halten“ und manchmal sogar ihr Recht, bedient zu werden, mit Gewalt zu verteidigen.
Die Rohstoffknappheit, die Gewohnheit, ohne Planungshorizont zu leben, das ständige Bedürfnis, „etwas zu ergattern“ – all diese unverzichtbaren Attribute des sowjetischen Lebens hatten viele weitreichende Folgen und beeinflussen uns bis heute.
Die moderne Welle der Angst, die uns alle mit der Verbreitung des mobilen Internets überrollt, hat Russland also „gut vorbereitet“ erreicht. Das Syndrom der „Angst, etwas zu verpassen“ erzeugt die ständige Befürchtung, nicht stets telefonisch erreichbar zu sein, was die bereits vorhandene Angst noch verstärkt. Aber das ist übrigens nicht nur ein Problem der Russen.
Georgij Manajew ist Journalist von Russia Beyond und Historiker.