Das zweite Leben der Nastja Belkowskaja

Nastja Belkowskaja beim Fotoshooting im  Dirndl. Foto: www.agency-visable.de

Nastja Belkowskaja beim Fotoshooting im Dirndl. Foto: www.agency-visable.de

Es krachte, dann konnte sich Nastja Belkowskaja an nichts mehr erinnern. Sie verlor beide Beine – jedoch nicht ihren Mut. Wie sie inzwischen ihr Leben in Moskau meistert.

Nastja Belkowskaja war gerade einmal zehn Jahre alt, als sie einen Designerwettbewerb des Modemagazins Burda gewann. Eine große Zukunft sagte man ihr damals voraus. Doch dann kam alles ganz anders: Vor fünf Jahren verlor Nastja beide Beine und ihr Gedächtnis.

 
Falsche Zeit, falscher Ort

 „Mama, wo bleibst du? Du musst mir doch noch bei meiner Frisur helfen! In einer halben Stunde muss ich fort!“, ruft Nastja und fährt flink mit ihrem Rollstuhl durch die geräumige Moskauer Wohnung. Sie ist 29 Jahre alt, und an einen Großteil ihres Lebens kann sie sich nicht erinnern. „Nastja hat einen Teil ihres Großhirns verloren“ erklärt ihre Mutter Natalja Belkowskaja. „Ich musste ihr das Lesen, Schreiben, Sitzen und sogar das Essen noch mal ganz von vorn beibringen.“ 

 Vor fünf Jahren, an einem kalten Dezembertag, fuhr Nastja mit ihrem Wagen auf dem Moskauer Autobahnring, einer der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Mit einem Mal ging der Motor aus. Während Nastja das Warndreieck aufstellte, wurde sie von einem Auto angefahren. Der Mann darin beging Fahrerflucht. 

Wie lange Nastja am Straßenrand im Schnee lag, weiß niemand genau. Von Hunderten vorbeifahrenden Autos hielt ein einziges an. Die Frau rief den Rettungsdienst an und hielt bis zu seinem Eintreffen Nastjas Hand. Vierzig Tage lang lag die junge Frau im Koma, beide Beine mussten ihr amputiert werden. Und das ist nur ein kleiner Teil dessen, was sie durchgemacht hat. 


Ein folgenschwerer Brief

 Zu dem Fotoshooting in Berlin kam Nastja Belkowskaja aus reinem Zufall. 2009 fuhr sie mit ihren Eltern nach Deutschland, um neue Beinprothesen anfertigen zu lassen. Im Vorfeld war es schwierig gewesen, das Geld dafür zusammenzubekommen. Doch viele halfen ihr: Kommilitonen, Geschäftsleute, ein bekannter Sänger und auch völlig fremde Menschen, die von ihrem Schicksal erfahren hatten. 

Nastja und ihre Mutter Natalja.

Foto: www.agency-visable.de

Drei Tage vor Abflug bekam Nastja den folgenschweren Brief. Der Fotograf Wolfgang Lehmann wollte sie auf die Titelseite eines deutschen Magazins bringen. Ein Kollege hatte im Netz den Aufruf zur Sammelaktion für ihre Prothesen gesehen und war von dem Videoclip in deutscher Sprache begeistert. 

„Du kannst dir selbst aussuchen, was du anziehen möchtest“, schlug Lehmann Nastja vor. Er hatte es kaum glauben können, dass die junge Frau da plötzlich in seinem Studio stand. „Am besten ist es, wenn das Outfit deiner Stimmung entspricht.“ Nastja fuhr mit ihrem Rollstuhl die Kleiderstangen entlang und schaute sich die sehr unterschiedlichen Requisiten an. Aus den Hunderten Kostümensuchte sie sich vier aus, darunter ein Hochzeitskleid.

Nastja erinnert sich gern an das Shooting zurück. Während der Aufnahmen war sie absolut glücklich, wie in einem Märchen hatte sie sich gefühlt. Staffage, Make-up und Licht sorgten für die gewünschte Wirkung: Bald darauf tauchte ihr Porträt auf den Titelseiten diverser deutscher Zeitschriften auf. 

„Für mich war es eine angenehme Überraschung, dass man in Deutschland Behinderten mit einem Lächeln begegnet und ihnen in die Augen sieht. In Russland kehrt man ihnen normalerweise den Rücken zu“, erzählt Natalja Belkowskaja. „Ich glaube, die Fahrt nach Deutschland hat uns alle verändert.“ Nach der Reise begann Nastja, aktiv Sport zu treiben. So aktiv, dass sie 2011 eine Disziplin bei der Bodybuilding- und Fitness-Weltmeisterschaft in Österreich gewann. Ein Jahr darauf wurde sie Moskauer Meisterin im Powerlifting. 

Und nur ihre Eltern wissen, wie viel Kraft diese Erfolge ihre Tochter gekostet haben. Um die Verkrümmung im Leistenbereich zu kompensieren, musste Nastja sechs Stunden täglich unter einem 45 Kilogramm schweren Sack 
liegen. Und das ganze vier Jahre lang. 


Eine andere Realität

 Seit mehreren Monaten werden im Internet Unterschriften für eine Petition an den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin gesammelt. Unter anderem geht es darum, Nastja Belkowskaja 
eine Transportmöglichkeit zur Verfügung zu stellen. Aus eigener Kraft kommt sie weder zum Training noch in die Universität. Die Fahrten mit dem Taxi gehen ins Geld – jeden Monat muss die Familie dafür umgerechnet tausend Euro berappen. Solche Ausgaben lässt die Haushaltskasse aber eigentlich nicht zu.

Natsja mit Trainerin Lilija Osija. Foto: Oleg Leschnew.

Ansonsten spielt Nastjas Mutter seit dem Unfall ihrer Tochter die Taxifahrerin. Außerdem war sie Psychologin, Lehrerin und Sozialarbeiterin für ihr Kind. Damit sie sich um Nastja voll und ganz kümmern konnte, musste sie sogar zeitweise ihre Arbeit aufgeben.

Inzwischen ist es ihr Ziel, für Nastja in etwa die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen, wie sie Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten in Deutschland haben. „Wenn ich es schaffen sollte, werden es auch die anderen Behinderten in Russland leichter haben“, gibt sie sich kämpferisch. Während Nastja also beim Reiten oder beim Gesangsunterricht ist, schwimmt und Gewichte im Fitnesscenter stemmt, schreibt die Mutter Briefe an die Behörden.

Gründe dafür gibt es zur Genüge. In ihrem Stadtviertel gibt es keinerlei Rampen für Rollstühle, geschweige denn Behindertentoiletten. Sogar auf eine Zuzahlung für einen Rollstuhl mit Elektroantrieb hat Nastja keinen An-
spruch. „Den bekommt nur jemand, der schwache Arme hat“, wurde Natalja Belkowskaja in einer Behörde angeblafft. „Ihre Tochter ist Fitness-Weltmeisterin. Das bedeutet, sie hat kräftige Ar- me und kann mit einem normalen Rollstuhl fahren.“ 

Nastja selbst interessieren diese Petitionen und Beschwerden nur am Rande. Wie in der Vergangenheit treibt sie jeden Tag mehrere Stunden Sport. Seit Neuestem erlernt sie komplizierte Zirkusnummern, zum Beispiel, so lang wie möglich auf den Händen zu laufen oder sich in der Luft an einem Seil zu drehen. 

Abends zeichnet Nastja häufig Modeentwürfe, denn sie hat ihren Traum, Designerin zu werden, noch nicht aufgegeben. Schon ein paar hundert Entwürfe liegen auf die Art in ihrer Schublade. Wenn man bedenkt, dass Nastja nach dem Unfall nicht einmal einen Bleistift in der Hand halten konnte, ist das ein kaum zu glaubender Fortschritt. Und außerdem möchte sie noch einmal Deutschland besuchen, heiraten und ein Kind zur Welt bringen.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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