Karin Haß auf der Pilzenjagd im sibirischen Wald. Foto aus dem persönlichen Archiv.
„Wie leben die Menschen in Sibirien? Welche Fische fangen und welche Tiere jagen sie? Wie kann man überhaupt dieses Klima überstehen?“, fragte sich Karin Haß während ihrer Paddeltouren auf sibirischen Flüssen. 2003 verliebte sie sich in das malerische Dorf Srednjaja Oljokma im ostsibirischen Sabajkal-Gebiet. Obwohl die Programmiererin und Buchautorin aus Hamburg kein Russisch sprach, stand für sie fest: Ihr Leben will sie für einige Monate mit den Menschen in dem Taigadorf teilen. In Sibirien suchte sie Stille, Besinnung und Abgeschiedenheit. Doch die Sibirjaken rücken immer eng zusammen. Manchmal zu eng. Die Stille hat sie nicht gefunden, dafür eine unglaubliche Gastfreundlichkeit kennengelernt, wie sie erzählt.
Nun ist die Hamburgerin kein Gast mehr, sondern ein vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft. Denn ausgerechnet in einem 80-Einwohner-Dorf weit entfernt von großen Siedlungen – bis zum Verwaltungsbezirk Tschita sind es 1 000 Kilometer und bis zu ihrer Heimat 9 000 Kilometer – lernte sie ihre große Liebe kennen. Es ist der 20 Jahre jüngere Pelztierjäger Slawa vom Volk der Ewenken. Sie blieb bei ihm, und das ungleiche Paar heiratete. Ihr Mann sage oft, warum liebe ich dich überhaupt, lacht Haß. So eine bedingungslose Liebe habe sie noch nie erlebt. Männer in Russland seien überhaupt viel gefühlsbetonter. „Bei uns in Deutschland läuft sehr viel über den Verstand“, meint Karin Haß.
Zwei Drittel des Jahres ist die Hamburgerin in Sibirien
Nur vier Monate verbringt Karin Haß in Deutschland, den Rest des Jahres ist Srednjaja Oljokma ihr Zuhause. Inzwischen ist die anfängliche romantische Begeisterung einem nüchternen Einblick in das Leben in der Taiga gewichen. Ein hartes Leben ohne Wasserleitung und Kanalisation, geprägt vom extremen Klima und großer Genügsamkeit. Doch nicht den Komfort vermisst sie, sondern ihre Tochter und ihre Enkelkinder. Die Tochter Claudia findet die Entscheidung der Mutter toll und würde auch gerne nach Sibirien kommen. Doch für die vierfache Mutter sei die lange Reise zu beschwerlich. Von Tür zu Tür dauert die Fahrt mindestens fünf Tage: zwei Flüge und die Fahrt mit der Transsib inklusive.
Ob sie Sibirien vermisse, wenn sie in Deutschland ist, wird sie oft gefragt: „In Hamburg genieße ich all das, was ich in Russland nicht habe. Aber wenn es so weit ist, da freue ich mich ganz toll darauf, meinen Mann wieder in die Arme zu schließen, über gefrorene Flüsse zu fahren und in mein Dorf zu kommen.“
Ihr Mann Slawa war bis jetzt nur einmal in Deutschland. Bei seinem Besuch war er über die Sauberkeit der deutschen Städte und über die Höflichkeit der Menschen sehr überrascht. Aber er kann sich kein Leben in Deutschland vorstellen. Er ist jemand, der in der Taiga aufgewachsen ist, ein Ewenke. Die Ewenken leben im Wald und jagen. Das ist ihre Vorstellung vom Leben, erklärt Karin Haß.
Die russische Seele aus deutschem Blickwinkel
Karin Haß und ihr Mann am Ufer der Lena. Foto aus dem persönlichen Archiv.
Inzwischen haben Karin und Slawa ein kleines Tourismusunternehmen aufgebaut und bieten über ihre Webseite Unterkünfte für Naturliebhaber aus Deutschland an. „Die Deutschen sind neugierig auf das exotische Leben, das teilweise wie im Mittelalter verläuft.“ Viele der Gäste kommen, weil sie ihre Bücher „Fremde Heimat Sibirien“ und „Bärenspeck mit Pfeffer“ gelesen haben. Jetzt arbeitet sie an dem dritten Erzählband über ihre Erlebnisse in Sibirien. Ein großes Kapitel ist der russischen Seele gewidmet. „Es ist schwierig, hinter das Geheimnis der russischen Seele zu kommen. Vielleicht aber ist gerade das nicht Fassbare, nicht Eindeutige die Erklärung, denn die russische Seele ist höchst zwiespältig und geprägt von Gegensätzen. In einer einzigen Seele schlummern einträchtig vereint Güte bis zur Rührseligkeit neben gedankenloser Härte, außergewöhnliche Großzügigkeit neben krassem Eigennutz, Frohsinn bis zu Übermut und Leichtsinn neben Schwermut und Fatalismus“, schreibt die Autorin.
Korrupte Beamten und primitive Fernsehprogramme machen die Hamburgerin in Russland richtig wütend. Aber sie hat gelernt, das alles mit Humor zu nehmen. „Allerdings ist am Ende meines Aufenthalts in Russland der Humor meistens aufgebraucht“, gesteht Karin Haß. Nach zehn Jahren in Russland ist sie hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. „Ich bin durch und durch deutsch erzogen. Natürlich ist meine Heimat Deutschland. Meine zweite Heimat ist aber Sibirien“, sagt sie. Doch wo sieht sie ihre Zukunft? „Man kann viel planen, aber man weiß nie, was das Leben für einen vorbereitet hat.“ Eine sehr russische Antwort.
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