Zweiter Weltkrieg:
Was die Medaillen der Veteranen erzählen
Jekaterina Sinelschikowa
Nächte in Schützengräben, Zwieback, Konserven, Wodka, Verletzungen, Tod, Tapferkeit – in vielen Aspekten ähneln sich die Geschichten der Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Sie alle haben Furchtbares durchlitten und es am Ende überlebt. Jeder von ihnen hat mehr als ein Dutzend verschiedener Medaillen, Orden, Ehrenabzeichen und Dankesbriefe erhalten. Aber alle winken ab: „Um Gottes Willen, machen Sie aus mir keinen Helden. Ich war ja ein einfacher Soldat, nicht mehr."

Manche haben ihre Ehrenabzeichen an einer Uniform aufgenäht, manche bewahren sie in einem Schuhkarton auf, eingewickelt in Schutzfolie aus Kunststoff, irgendwo in einer hinteren Ecke im Schrank. So oder so – sie sind ein Familienstück, das nur zu besonderen Anlässen herausgeholt wird, zum Beispiel am 9. Mai, um zur Siegesparade zu gehen, obwohl das nicht mehr alle schaffen, oder wenn Journalisten zu Besuch kommen. Einfach so trägt diese Abzeichen niemand.

Jedes Ehrenabzeichen steht für eine Lebens- oder Todesgeschichte, eine Heldentat oder eine schreckliche Erinnerung. Zwei Kriegsveteranen erzählen, woran sie denken, wenn sie ihre Auszeichnungen in die Hand nehmen.
Michail Jakowlewitsch Buloschnikow,
95 Jahre
„Dahin brachte man Menschen, zurück wurden jedoch keine Verletzten oder Toten geholt"
Die Nazibonzen hielten die Stadt mit eisernem Griff umschlungen, sie wollten uns aushungern.
Ich wurde in Moskau geboren, mit 21 wurde ich an die Front geschickt, 900 Tage lang habe ich die Leningrader Blockade miterlebt. Zweieinhalb Monate nach Kriegsbeginn waren die Nazitruppen schon im Verwaltungsgebiet Leningrad. Das war nicht einfach irgendeine Offensive, sie hielten die Stadt mit eisernem Griff umschlungen, sie wollten uns aushungern. Die Nazibonzen meinten, die Stadt würde ihnen zu Füßen fallen wie eine reife Frucht. Es gab keine Vorräte in Leningrad für drei Jahre Blockade, alles war knapp. Vor dem Krieg wohnten etwa vier Millionen Menschen in der Stadt, viele sind geflohen, aber ebenso viele haben es nicht geschafft.

Unsere Aufgabe war es, die Blockade zu brechen. Der einzige Ort, wo das gehen konnte, war das sogenannte Newski-Aufmarschgelände oder „Newski Pjatatschok" („Pjatatschok" steht im Russischen für einen engen Raum oder kleinen Platz, Anm. d. Red.). Das war ein Feldacker auf der Seite des Feindes, am linken Ufer der Newa. Wir mussten also zum anderen Ufer übersetzen. Aber wie? Die Strecke war zwar nur 17 Kilometer lang, aber ein richtiges Moorgebiet. Sobald man einen Pionierspaten in den Boden steckte, um einen Schützengraben auszuheben, kam das Wasser. Schwere Militärtechnik konnte man so nicht transportieren. Man musste sie also mit – anderthalb Tonnen – schweren Brückenbooten aus Eisen befördern. Also beluden wir sie mit unseren Autos und fuhren durch unbefahrenes Gelände bis zum Ufer, dabei versuchte man, so leise wie möglich zu sein, was natürlich nicht klappte – die Autos waren superlaut.

Diese Manöver fuhren wir nachts. Tagsüber wurden unsere Brückenboote gezielt bombardiert. Aber auch nachts war es furchtbar. Die Deutschen am anderen Ufer schossen Leuchtraketen in die Luft, die sehr langsam herabfielen und alles mit einem unheimlichen Licht ausleuchteten. Das Wasser kochte von Minensplittern und Bomben. Menschen wurden hingebracht, aber Verletzte und Tote kehrten nicht zurück. So war diese Überfahrt.
„Ich mochte das Risiko, nicht die Auszeichnungen"
Die wichtigste Auszeichnung ist für mich die Medaille „Für Verdienste im Kampf". Ich bekam sie Anfang 1942, das war meine erste Medaille. Ausgezeichnet wurde ich mit der Begründung „Für die Tapferkeit bei der Verteidigung von Staatsgrenzen". Sogar in einer Frontzeitung wurde darüber berichtet und ich war so glücklich, dass ich meinen Eltern einen Ausschnitt aus der Zeitung geschickt habe. Später bekam ich die Medaille „Für die Verteidigung Leningrads".

Medaillen für "die Verteidigung von Leningrad", "die Einnahme von Budapest" und "den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg".
Der Orden des Roten Sterns wurde mir ebenfalls 1942 in Anwesenheit von allen anderen verliehen. Damit wurde man entweder für eine erfolgreiche Erfüllung einer schwierigen Aufgabe oder für die Tapferkeit unter Beschuss ausgezeichnet. Das war etwas Besonderes, denn viele Medaillen sind lediglich Auszeichnungen zu irgendwelchen Jubiläen, zum vierzigsten, fünfzigsten oder sonst irgendeinem Jahrestag … die bekommen alle Soldaten. Und erst neulich habe ich wieder zwei Medaillen zugeschickt bekommen: „Für den Durchbruch der Leningrader Blockade" und „Für die Aufhebung der Blockade".

Für jede befreite Hauptstadt gab es eine extra Auszeichnung. Nach der Befreiung Leningrads waren wir in Tallin, danach gelangten wir über Weißrussland und die Ukraine nach Rumänien. Anschließend waren wir in Ungarn, also Budapest. Die Bevölkerung hatte Angst vor uns, die dachten, dass russische Soldaten plündern und töten. Als wir in den Stadtteil Pest kamen, der östlich von der Donau liegt, wurden wir bei der Zivilbevölkerung untergebracht.
Da war eine Frau, sie weinte, weil sie ihre sechzehnjährige Tochter zum Onkel in den Stadtteil Buda geschickt hatte, also über die Brücke. Sie wusste ja, dass die Russen erst einmal nach Pest kommen würden. „Ich habe gehört, in Buda herrscht Hunger, da isst man tote Pferde", sagte sie.
Die anderen Soldaten machten sich über mich lustig, sie meinten, ich fahre ein Skelett zurück.
Alle Brücken wurden gesprengt, wir mussten also über die Donau setzen, und ich sagte ihr, ich könnte das Mädchen finden und zurückbringen. Und das tat ich auch. Der Onkel hatte sechs weitere Kinder bei sich, zu essen hatten sie kaum was. Das Mädchen kam heraus, war mager und blass, hatte einen Rucksack dabei und war sehr ängstlich. Die anderen Soldaten machten sich über mich lustig, sie meinten, ich fahre ein Skelett zurück. Den ganzen Weg betete das Mädchen, sagte nur „Mein Gott, mein Gott". Als Mutter und Tochter sich begegneten, schrien sie vor Freude. Und ich musste weiterfahren, habe nur kurz gehupt und bin weg.

Ehrlich gesagt, mich interessierten die Auszeichnungen wenig. Ich war gerne Soldat, ich war jung und abenteuerlustig. Ich mochte das Risiko und war sofort bei jedem Einsatz voll dabei, wenn ich geschickt wurde. Wir waren alle davon beflügelt, dass wir mitten im Kampf waren.
Valentin Sergejewitsch Barmin,
90 Jahre
„Schau dem Tod in die Augen und
vielleicht schaut er weg"
„Walka, Krieg ist keine einfache Sache. Im Krieg tötet man und wir sind selbst Todeskandidaten. Oder man wird verletzt oder gefangen genommen. Aber lieber sterben wir, als ein Gefangener zu werden."
Ich war der jüngste in meiner Kompanie – am 14. Januar 1945 wurde ich 18, an dem Tag waren alle Truppen der Weißrussischen Front im Einsatz. Ich erinnere mich, wie mit den Katjuscha-Raketenwerfern geschossen wurde. Wir wohnten damals in Erdhütten: Man grub ein großes Loch, warf Holz rein, danach Erde. Oft war Wasser direkt unter deiner Liege. Aber das war okay.

Mein Offizier war für mich wie ein Pate, er beschützte mich wie ein Vater. Einmal sagte er: „Walka, Krieg ist keine einfache Sache. Im Krieg tötet man und wir sind selbst Todeskandidaten. Oder man wird verletzt oder gefangen genommen. Aber lieber sterben wir, als ein Gefangener zu werden. Und du musst wissen, wenn du Angst vor dem Tod hast und fliehst, dann wird der Tod dich erwischen. Deswegen musst du dem Tod in die Augen schauen, vielleicht schaut er dann weg."

Diesen Satz habe ich mir gemerkt, und er hat mir das Leben gerettet. Wir waren in Ostpreußen, da gab es vorwiegend Städte oder private Landsitze, keine Dörfer. Die Zivilbevölkerung wurde aus Ostpreußen nach Zentraldeutschland evakuiert. Und die Landsitze wurden für die Verteidigung gerüstet: Die Häuser waren ja aus Stein oder Ziegel, im Keller gab es Schießscharten und da saßen die deutschen Soldaten. Eine massive Verteidigung kam uns entgegen. Unser Fahrer wurde von einer Explosion erwischt und verlor einen Fuß. Dann wurde unser Dienstherr verletzt. Und ich lief hin und her zwischen den beiden, versuchte sie zu versorgen, und wusste nicht mehr, was um mich passierte. Als ich wieder denken konnte, sah ich, dass alle anderen schon weit vorne und rechts waren und mir eine Kette aus zwölf bis 15 Deutschen entgegenkam. Zwischen uns lagen 50 Meter. Ich dachte, ich werde sicher sterben. Aber wenn es so sein sollte, dann müsste ich jemanden mitnehmen. Es war wichtig, nicht einfach so zu sterben.
Ich sah einen Stein und versteckte mich dahinter. Ich war nicht sonderlich groß. Ich hatte 32 Patronen und zwei Granaten dabei. Ich war immer schon gut im Schießen, nach der Schule in einem Militärlager traf ich mit einem Kleingewehr 29 von 30 Zielen. Also entschied ich mich für Einzelschüsse, neu zu laden hätte ich sowieso nicht geschafft. Meine Gegner fielen der Reihe nach, dann war alles still. Dann hörte ich Geräusche im Gebüsch – da waren noch zwei, die drängten zu mir. Ich gab eine Salve und wurde ohnmächtig. Meine Kameraden fanden mich und versuchten mit mir zu reden. Ich zitterte, ich konnte nicht glauben, dass ich lebe, konnte nichts sagen. Mein Bein war angeschossen, mein Stiefel war voll mit Blut, aber ich spürte das nicht. „Der Junge ist ein Held", sagten sie. Dafür bekam ich später eine Auszeichnung – den Orden des Großen Vaterländischen Krieges I. Klasse. Dieser Orden wurde denen verliehen, die im Kampf verletzt wurden.

Der Tod war damals für mich gar nicht das Schlimmste, sondern dass man mich nicht finden würde und denken könnte, ich hätte mich aus dem Staub gemacht und wäre ein Deserteur. Getötet werden konnte jeder, aber ein Feigling oder Deserteur sein – das konnte den Verwandten zum Verhängnis werden. Ich hatte meine Mutter und zwei Schwester. Mein Vater war auch im Krieg und starb bei Leningrad, während des Durchbruchs der Blockade. Die Nachricht von seinem Tod kam im Januar 1942.
Ich grub mir jede Nacht einen Schützengraben, in dem ich schlief. Und jeden Morgen damals in diesem Sommer dachte ich: „Wo bin ich? Bin ich gefangen genommen worden?"
Wir befreiten Königsberg, ich war da nur einen Tag. Ich kann mich an einen Graben mit Wasser erinnern, an Befestigungen, Türme und eine stark zerstörte Stadt. Das war ein Monat vor Kriegsende. Später war das Treffen mit den Amerikanern an der Elbe. Wir hatten kaputte Stiefel und waren dreckig, also beschlossen unsere Kommandeure, uns nicht zu zeigen. Dafür wurden wir aber sehr gut mit Schmalzfleisch gefüttert. Für uns war es eine Delikatesse, die Amerikaner lieferten es nach dem Leih- und Pachtgesetz. Später stellte sich heraus, dass sie selbst das gar nicht essen. Aber egal, an unserer Stelle schickten sie also Neueingezogene, die sauber und schön waren. Wir waren neidisch, klar. Aber was sollten wir machen.

Nach diesem Treffen machten wir uns auf den Rückweg von Berlin nach Hause, und zwar zu Fuß. Wir mussten eine 2 340 Kilometer lange Strecke zurücklegen, den ganzen Sommer 1945 dauerte das. In Deutschland pflanzte man Bäume entlang der Straßen, also gingen wir wie durch einen grünen Tunnel. Es war ja Sommer, alles blühte. Und wir gingen durch diesen Tunnel, wir, die Sieger. Manche hatten zu Hause niemanden mehr und nach einer feierlichen Rede, die mit den Worten „Kameraden, der Krieg ist vorbei, wir haben gesiegt" endete, begannen sie zu weinen. Ich grub mir jede Nacht einen Schützengraben, in dem ich schlief. Und jeden Morgen damals in diesem Sommer wachte ich völlig durcheinander auf und dachte: „Wo bin ich? Bin ich gefangen genommen worden?"
Text von Jekaterina Sinelschikowa
Lektorat Max Korschunow, Carolin Sachse
Fotoquellen: Maria Ionova-Gribina
Design und Layout von Anastasija Karagodina
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