Bild: Natalja Michajlenko
Ein westlicher Leser, der sich auch nur halbwegs in der Literatur Russlands auskennt, assoziiert den Begriff „russische Frauenprosa" in erster Linie mit den Namen Ljudmila Ulitzkaja, Tatjana Tolstaja und Ljudmila Petruschewskaja. Alle drei Schriftstellerinnen haben die literarische Bühne kurz vor dem Zusammenbruch der UdSSR betreten.
Der Versuch, Gemeinsamkeiten im Schaffen dieser drei namhaften Autorinnen zu finden, dürfte schwierig, wenn nicht gar sinnlos sein. Erwähnen lässt sich in diesem Zusammenhang wohl nur, dass ihre Prosa
sehr selten lebensbejahend war. Insgesamt hinterließen die Texte einen beklemmenden, mitunter sogar düsteren Eindruck. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Ulitzkaja, Tolstaja und Petruschewskaja verbrachten den Großteil ihres Lebens in der Sowjetunion, ihre Erinnerungen an jene Jahre waren überwiegend von Ablehnung geprägt. Was nicht überrascht.
Die nachfolgende Generation der 1990er-Jahre hat eine geringere Zahl ernst zu nehmender Autorinnen hervorgebracht. Es fällt schwer, Namen zu nennen, die gleichwertig in einer Reihe mit den eben erwähnten aufgezählt werden könnten. Die bedeutendste Schriftstellerin dieser Periode ist sicher Olga Slawnikowa, die ganz für sich steht und die Linie Vladimir Nabokovs fortführt. Insgesamt aber hinterlässt die Frauenprosa jener Jahre den Eindruck einer vehementen, an Schamlosigkeit grenzenden Freizügigkeit. Man erinnere sich nur an die Romane der 2003 verstorbenen Natalja Medwedewa.
Die schreibenden Frauen der 1990er waren bemüht, sich möglichst radikal und allumfassend von der sowjetischen Heuchelei loszusagen und jedwedem Versuch einer Einschränkung der menschlichen – einschließlich der weiblichen – Freiheit zu entziehen. In diesem rückhaltlosen literarischen Erneuerungsdrang war bereits damals der Beigeschmack einer unausweichlichen Tragödie spürbar. Heute gibt es die Sowjetmacht nicht mehr, seit dem Zerfall der UdSSR ist ein Vierteljahrhundert vergangen und inzwischen eine ganze Generation neuer Schriftstellerinnen herangewachsen. Sie haben die alten Zeiten nicht mehr kennengelernt, müssen sich dafür aber mit einer anderen, nicht minder misslichen Epoche auseinandersetzen.
Es lässt sich unumwunden sagen, dass eine Reihe von Autoren sowjetischer Prägung eine gewisse vulgarisierende Herangehensweise pflegte. Alles Schlimme, was ihren Protagonisten widerfuhr, erklärten sie kategorisch mit den Übeln des Sowjetregimes. Man könnte glauben, dass ohne die Sowjetunion die Menschen in sämtlichen Lebenslagen uneingeschränkt glücklicher sein könnten, Männer und Frauen sich niemals trennen und einander kein Leid zufügen, alle Kinder ungetrübte Kindheitstage erleben, selbst die Haustiere einhundert Jahre alt werden und die Erdenbewohner nicht auf dem Boden laufen, sondern leicht abgehoben darüber hinweg schweben würden.
Die erste Dekade nach der Jahrtausendwende brachte dann eine erstaunliche Offenbarung. Ohne die Sowjetmacht, so furchtbar sie sich auch des Öfteren geriert hatte, wurden die Frauen nicht glücklicher. Ja mehr noch, sie schienen es jetzt sogar schwerer zu haben. Wofür sowohl ontologische als auch soziale Gründe verantwortlich zu machen sind.
Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit der Herausgabe einer Anthologie neuer Frauenprosa befasst. Die Erzählungen und Novellen stammten von 14 Schriftstellerinnen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren, darunter die wichtigsten Autorinnen dieser Generation: Maja Kutscherskaja, Marina Stepnowa, Alissa Ganijewa, Anna Starobinez, Natalja Kljutscharewa. Ihre Bücher werden bereits in alle maßgeblichen europäischen Sprachen übersetzt, sodass auch Leser außerhalb Russlands ihre Eindrücke mit meinen vergleichen können.
Bei der Auswahl der Beiträge hatte ich keine strikten Leitlinien befolgt, sondern einfach meine Lieblingstexte der namhaftesten Erzählerinnen der Jetzt-Zeit zusammengestellt. Als ich vor der Übergabe des Manuskripts an den Verlag mein Werk noch einmal las, war ich selbst verblüfft, wie deutlich darin bestimmte Tendenzen zutage traten.
Typisch für die moderne Frauenprosa ist ihr apolitischer Charakter. Überraschenderweise hat sich gezeigt, dass es dem Menschen gut oder schlecht gehen kann, ohne dass dies in irgendeiner Beziehung zum ökonomischen Typus seines Staates stehen muss. In der Welt, in der die Frau lebt, gibt es nur noch wenig Episches. Sie muss das Beständige in sich selbst suchen, nicht außerhalb.
Ein weiteres Charakteristikum dieser Prosa besteht darin, dass die auf das Glück fixierten Protagonistinnen ihren Glücksanspruch nicht realisieren können. Es gibt keinen Stalin und keinen Staatssicherheitsdienst NKWD mehr, von Massenrepressionen kann keine Rede sein, ja selbst der Krieg in Tschetschenien hat die Gesamtbevölkerung Russlands nicht in dem Maße tangiert, wie es den Anschein haben konnte. Und doch macht die Welt, in der die lyrischen Heldinnen in den Werken der zeitgenössischen Autorinnen leben, einen beschwerlichen Eindruck.
„Diese Welt ist bedrohlich und perfide, es ist furchtbar, in dieser Welt Kinder zu gebären, und gefährlich, darin zu leben.", so eine Kernaussage. Was in den 1990-er Jahren ein tragisches Vorgefühl war, hat sich im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende zur Gewissheit verfestigt: Das Gefühl der Verlorenheit und des Schmerzes – beispielsweise bei Natalja Kljutscharewa, wird etwa bei Anna Starobinez zu einer Empfindung des unausweichlichen Schreckens.
Dabei sind die Werte, die die Repräsentantinnen der femininen Literatur vertreten, durchaus traditionell, ja sogar konservativ. Dasein und Alltag, Familie und Barmherzigkeit, eine stille, unaufdringliche, aber unverkennbare Religiosität sind immer wiederkehrende Motive.
Eine Besonderheit, die mehrere Texte aus der Feder von Autorinnen der neuen Generation kennzeichnet und mir sehr zu denken gegeben hat, besteht in der Abwesenheit von Männern. Nicht, dass sie in der Rolle der selbstlosen Helden fehlen würden, sie kommen überhaupt nicht vor, nicht einmal episodisch, geschweige denn als Protagonisten. In Dutzenden Texten gab es keinen einzigen Mann!
Wenn das Feminismus sein sollte, dann wirkt er erzwungen. Die Heldinnen haben ihn nicht gewollt und brauchen ihn nicht allzu sehr. Aber sie haben bereits keine andere Wahl mehr, und so gestaltet die Frau in der zeitgenössischen russischen Prosa das Leben im Alleingang. Diese Frau lebt mit aller Kraft und gibt nicht auf bis zur allerletzten Minute. Und lernt, wie es scheint, jetzt selbst zu wählen, ob sie glücklich oder unglücklich sein will.
Eine Frau kann a priori nicht für irrationale Ziele leben, einen derartigen Luxus können sich nur Männer leisten. Die Frauen sind es, die Kinder gebären. Sie schenken die Zukunft und folglich auch die Hoffnung. Es gibt sie, die Hoffnung, man spürt sie, allem und allen zum Trotz. Worin sie nun eigentlich liegt, habe ich übrigens nicht herausgefunden. Offenbar verkörpert die Frau an und für sich Hoffnung. Und das ist doch schon einmal etwas.
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