Verbote wecken Begierden

Bild: Natalja Michajlenko

Bild: Natalja Michajlenko

Das restriktive Gesetz gegen Homosexuelle Propaganda bewirkt das Gegenteil, meint der Journalist Ilja Klischin.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Informationen nicht nur grenzenlos verfügbar sind, sondern auch im Übermaß. Die im Laufe eines Jahres erzeugten Texte und Bilder entsprechen, ausgedrückt in Bytes, dem kulturellen Erbe mehrerer Jahrtausende. Leider handelt es sich dabei um wertlose Beliebigkeit – Shakespeare neben einem unbekannten YouTube- 
Kommentator.

Mit zunehmender Masse an Informationen sinkt ihr Wert im Einzelnen. Um in den virtuellen Wogen des Datenmeers überhaupt noch jemanden für

etwas zu interessieren, muss die Information einen signifikanten „Mehrwert" enthalten. Der kann im Merkmal des – tatsächlichen oder fiktiven – Verbotenseins liegen.

 Marktforscher haben schon lange erkannt, dass die Logik der verbotenen Frucht absolut zuverlässig funktioniert. Von Millionen Werbespots will der Verbraucher den sehen, der aus dem Programm gekippt oder als unmoralisch gebrandmarkt wurde. Im Westen haben Marketingexperten diese Wirkung schon vor Jahren genutzt und Werbung so konzipiert, dass mit ihrem Verbot gerechnet werden konnte.

Ihre russischen Kollegen haben das Verfahren vereinfacht. Sie gingen dazu über, ihre Videoclips direkt als „verboten" zu etikettieren. Unter dem Gesichtspunkt einer Werbekampagne lässt sich auch die gesetzgeberische Tätigkeit des russischen Parlaments betrachten, insbesondere der Gesetzentwurf über das Verbot homosexueller Propaganda. Auskunft über die Effektivität dieser „Kampagne" gibt der Suchmaschinen-Service Google Trends: Er macht Änderungen bei der Häufigkeit von Suchbegriffen und damit Entwicklungen des gesellschaftlichen Interesses nachvollziehbar und lässt Prognosen über zukünftige Suchtendenzen zu.

So häufig wie im Januar 2013 haben die Nutzer des russischen Internets nie zuvor nach den Begriffen „Schwule", „Lesben" und „Schwulenporno" gesucht. Im 
vergangenen halben Jahr hatten auch andere Schlüsselwörter wie 
„Homosexualität", „LGBT" und „Transgender" Hochkonjunktur. Das Wachsen des Interesses an diesem Begriffsfeld nahm ein rapides Tempo an. Google-Prognosen zufolge werden alle diese Suchbegriffe 2013 weiterhin im Kurs steigen, allen voran der „Schwulenporno" mit einer Zunahme von drei Prozent.

Eine Analyse der mythisch konstruierten „Schwulenpropaganda" und der Komponenten des im Sommer eingeführten Registers verbotener Internetseiten, die Kinderpornos, Informationen über Drogen oder Suizid enthalten, lässt den Schluss zu, dass die Hochkonjunktur des Interesses an diesen Themen zeitlich mit der gesetzgeberischen Tätigkeit der Staatsduma zusammenfällt.

Ein Sonderfall sind dabei die Suchwörter „Kinderporno" und „Drogensüchtige". Das Suchgeschehen um den einen wie den anderen Begriff erlahmte ab Dezember 2008 bzw. Juli 2009. Nach der Einführung des Registers jedoch schlug dieser Trend für eine gewisse Zeit im Sommer bis Herbst vergangenen Jahres um. „Kinderporno" schnellte von 40 auf 51 Prozent in die Höhe, „Drogensüchtige" von 22 auf 29 Prozent.

Dass wir es mit einem zwingenden Zusammenhang und nicht mit einer bloßen Koinzidenz zu tun haben, belegt der Fall „Kinderporno", in dem es den Gesetzgebern gelang, einen versiegten Trend neu aufleben zu lassen.

Im Jahr 1916 griff der Vorsitzende der damaligen Staatsduma Pawel Miljukow die Regierung mit den berühmt gewordenen Worten an: „Was ist das – Dummheit oder Verrat?" Auch heute ist unklar, womit wir es zu tun haben. Mit einem abgrundtiefen Unverständnis, was die Funktionsweise der Medien betrifft, oder mit einer 
äußerst spitzfindigen Verschwörung. Auf Letztere jedoch brauchen wir nicht zu hoffen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Wedomosti.ru

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