Türkei: Naht ein „Heißer Sommer“?

Bild: Alexej Jorsch

Bild: Alexej Jorsch

Turkologe Wladimir Awatkow äußert seine Meinung über die aktuelle Situation in der Türkei und welche Gefahren daraus für die Weltgemeinschaft erwachsen können.

Bereits mehrere Tage dauern die Massenproteste in der Türkei gegen die Politik der Regierungspartei und für einen Rücktritt des Ministerpräsidenten Erdoğans an. Allein in der Hauptstadt Ankara gingen mehr als 20 000 Menschen auf die Straße. Zum Schutz staatlicher Einrichtungen wurde nicht nur die Polizei, sondern auch das Militär eingesetzt. Diese Ereignisse erinnern in ihrer Struktur und Dynamik an die Protestwelle von Ende 2010 und Anfang 2011, die den Auftakt des „Arabischen Frühlings" im Nahen Osten und in Nordafrika bildete. Hat der „Arabische Frühling" sich nun also bis zur Türkei vorgearbeitet und droht er sich nun in einen türkischen „Heißen Sommer" zu verwandeln?

Der Anlass dieser Massenproteste in der Türkei war ein – auf dem ersten Blick – unbedeutendes Ereignis. Die türkische Regierung beabsichtigte, einen von nur wenigen Parks in Istanbul, den Gezi-Park, der sich auf der europäischen Stadtseite am Taksim-Platz befindet, abzuholzen. Dort sollte ein Einkaufszentrum und Parkplätze gebaut sowie die Straße erweitert werden.

Die Kundgebung gegen die Abholzung der Bäume wurde von der Polizei mithilfe von Tränengas und Wasserwerfern auseinandergetrieben. Die einheimischen Massenmedien berichteten über eine große Anzahl von Festnahmen. Völlig unerwartet für die Regierung kam es in vielen Städten des Landes zu Solidaritätsaktionen, die sich schnell in Massendemonstrationen gegen das herrschende Regime verwandelten.

Die geplante Abholzung des Parks und die Auflösung der zu dessen Schutz veranstalteten Demonstration waren, wie auch die ähnlichen Ereignisse, die zum „Arabischen Frühling" führten, lediglich ein Katalysator für die sich in der Gesellschaft angestaute Unzufriedenheit gegenüber der Politik des herrschenden Regimes.

Zurzeit werfen die einen der gemäßigten islamischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Islamisierung des Landes, die anderen das mutwillige Verschleppen von notwendigen Reformen vor.

 

Abkehr von Atatürk?

Die Türkische Republik hat in den vergangenen zehn Jahren eine kolossale Transformation miterlebt. Heute hat die Weltgemeinschaft es mit einem, in ideologischer Beziehung, absolut neuen Land zu tun. Mit dem Regierungsantritt der AKP betrat die säkulare Türkei den Pfad der Bildung einer gemäßigt islamischen Gesellschaft, die türkische Experten als Gegensatz zum radikal-islamischen Modell des Irans ansehen.

Wie aber konnte es dazu kommen? Haben denn nicht während der gesamten Geschichte der Republik die Militärs beim kleinsten Verdacht des Abrückens vom säkularen Entwicklungsweg geputscht, die Regierung übernommen und kurze Zeit später, nach einer Reihe von Reformen, die Macht an die Zivilverwaltung zurückgegeben?

Erdoğan erwies sich jedoch als klüger als seine Vorgänger. Im Gegensatz zu ihnen hat er in seiner Funktion des Ministerpräsidenten das islamische Thema nie direkt angeschnitten, dabei jedoch langsam, aber sicher das Gerichtswesen transformiert, die Eröffnung von Strafverfahren gegen die Militärs beeinflusst, eine wirtschaftliche Basis mithilfe islamischer Fonds geschaffen und somit eine neue loyale Elite „herangezüchtet".

Gleichzeitig haben die Demonstrationen im Land momentan nicht das Potenzial, sich zu einer richtigen Revolution zu entwickeln. Der Hauptgrund ist das Fehlen markanter Führungspersonen. In der türkischen politischen Kultur gibt es die Tradition, sich weniger an Parteien zu orientieren, als an einzelnen Führungspersönlichkeiten.

Die Opposition in der Türkei ist äußerst zersplittert – nicht nach Clans, sondern nach sozial-politischen Kriterien. Dabei sind die ideologischen Ausrichtungen und Interessen der sozialen Milieus und Klassen derart politisiert, dass sie sich aufgrund eines fehlenden gesamtnationalen Zusammenhalts wohl eher einen Bürgerkrieg initiieren. Bis zum Regierungsantritt von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung dienten über achtzig Jahre lang die Prinzipien des Gründers der Türkische Republik – Mustafa Kemal Atatürks – als Grundlage für diesen gesamtnationalen Zusammenhalt.

 

Quo vadis Türkei?

All das, was gegenwärtig in der Türkei passiert, kann die Weltgemeinschaft nicht unberührt lassen. Das Land befindet sich zwischen Europa und Asien, dem Balkan und dem Nahen Osten. Die Europäer beziehen ihre Energie unter anderem über dieses Land. Von der innenpolitischen Stabilität im Land hängt unmittelbar auch die europäische Sicherheit ab, verfügt die Türkei doch über die zahlenmäßig zweitstärkste Armee in der NATO, mehrere wichtige Militärbasen und ist der engste Verbündete der USA in der Region.

Darüber hinaus hängt von den Ereignissen in der Türkei unmittelbar die Stabilität im Nahen Osten ab. Viele Länder des „Arabischen Frühlings" haben das türkische Modell des gemäßigten Islams übernommen und lassen sich in vieler Hinsicht von der Politik Erdoğans leiten.

Die russischen Interessen könnten ebenfalls in Gefahr sein. Milliardenschwere Projekte könnten eingefroren werden. Es seien nur das

Kernkraftwerk in Akkuyu, der Betrieb von Pipelines und der Tourismussektor erwähnt.

Es ist jedoch nicht unbedingt für die allernächste Zukunft zu erwarten, dass die Proteste verebben. Es ist auch möglich, dass sie sich in eine Revolution oder in einen Bürgerkrieg ausweiten, wobei dies eher wenig wahrscheinlich scheint. In der Zwischenzeit sollte die Weltgemeinschaft sich – wie in solchen Fällen üblich – an das Grundprinzip halten: „Hoffe auf das Beste und rüste dich für das Schlechteste".


Wladimir Awatkow ist der Dozent am Lehrstuhl für Sprachen des Nahen und Mittleren Ostens des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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