Zwischen Strafe und Akzeptanz: Homosexualität in Russland

Bild: Dan Potozkij

Bild: Dan Potozkij

20 Jahre nach der Entkriminalisierung der Homosexualität geht der russische Staat erneut gegen homosexuelle Menschen vor. Wie Russland während der vergangenen Jahrhunderte mit Homosexualität umging, zeigt ein kurzer historischer Überblick.

Am 25. Januar 2013 hatte Anton Krasowskij, Chefredakteur des vom Kreml unterstützten Fernsehkanals Kontr-TV, während einer Live-Sendung sein Coming-out. Er erklärte: „Ich bin homosexuell, und ich bin genauso ein Mensch wie Sie, lieber Zuschauer, wie Präsident Putin, Premierminister Medwedjew und die Abgeordneten unserer Staatsduma." Allerdings wird man im Internet vergebens nach einem Mitschnitt dieser Sendung suchen: Er wurde zusammen mit dem Firmen-Account Krasowskijs und den Eintragungen über ihn von der Webseite des Fernsehsenders entfernt. Der Chefredakteur wurde drei Tage nach seinem öffentlichen Coming-out veranlasst, seinen Schreibtisch zu räumen. Krasowskijs eigenen Worten zufolge habe niemand wirklich sein persönliches Coming-out bemerkt, „aber allen blieb die Formulierung ‚Ich bin genauso ein Mensch' in Erinnerung".

Es wäre Heuchelei zu behaupten, dass Krasowskij wegen seiner sexuellen Orientierung entlassen wurde. Es war die Bemerkung über die Gleichsetzung mit dem Präsidenten, die Krasowskijs Chefs so erzürnte. Viele russische Homosexuelle arbeiten erfolgreich in den Medien und in anderen öffentlichen Bereichen, aber für viele von ihnen ist das Coming-out noch immer keine Option.

Im heutigen Russland gelten homosexuelle Menschen als eine Art Aussätzige der Gesellschaft – gemäß einer Umfrage des Levada-Zentrums

vom April 2013 denken die Russen, dass Homosexualität entweder eine Krankheit (35 Prozent) oder aber eine schlechte Angewohnheit (43 Prozent) sei, während nur zwölf Prozent der Meinung sind, eine homosexuelle Orientierung sei normal. Auf die Frage, ob die Rechte der homosexuellen Menschen denjenigen von Heterosexuellen gleichgestellt werden sollten, stimmten 47 Prozent dagegen und 39 Prozent dafür. Um zu verstehen, woraus sich diese Meinung im Laufe der Zeit entwickelt hat, wollen wir eine kurze Reise in die Geschichte der Homosexualität in Russland unternehmen.

 

Das Zarenreich: Wechselnder Umgang mit Homosexualität

Im alten Russland wurden sexuelle Beziehungen zwischen Männern (Sodomie) durch die Kirche bestraft, aber nicht sonderlich hart – die Buße unterschied sich nicht von der Buße für Vergehen heterosexueller Art. Homosexuelle Liebe wird in mittelalterlichen Quellen zwar nur selten, aber doch erwähnt. Vom 15. bis 17. Jahrhundert kamen homosexuelle Kontakte bei den jungen Männern des Adels bereits häufiger vor: Sogar Zar Iwan IV. unterhielt in seinen Zwanzigern Beziehungen zu dem jungen und angesehenen Adligen Fjodor Basmanow.

Besucher aus dem Ausland schrieben in ihren Erinnerungen an Reisen nach Russland oft, dass männliche Homosexualität auf allen Ebenen der Gesellschaft bestünde und aus Ehrfurcht vor den Gästen aus Europa nicht als Verbrechen behandelt werde. Zunehmende Homosexualität ließ die Popen der russisch-orthodoxen Kirche immer mehr Sturm laufen. Aber auch das hielt junge Adlige Ende des 17. Jahrhunderts nicht davon ab, ihre Bärte abzurasieren oder Make-up und Parfüm zu tragen. Der Historiker Sergej Solowjow bemerkte dazu später, dass „nirgends im Osten oder Westen mit dieser Sünde so locker umgegangen wird wie in Russland".

Die ersten Sanktionen für homosexuelle Beziehungen wurden 1716 von Peter dem Großen in der russischen Armee in Form einer Leibesstrafe und im Falle einer Vergewaltigung desselben Geschlechtes in Form der Verbannung eingeführt. Unter dem russischen Adel des 18. Jahrhunderts war gleichgeschlechtlicher Sex ziemlich verbreitet.

Im 19. Jahrhundert, mit intensiver werdenden russisch-europäischen Beziehungen, erfuhren die Russen, dass in anderen Ländern Homosexualität häufig als ein Frevel wahrgenommen wurde. So begannen

sie, ihr sexuelles Verhalten zu verbergen. Unter Malern, Dichtern und Staatsbeamten, einschließlich des Prinzen  Golizyn und des Grafen Uwarow, war Homosexualität weit verbreitet, dem wurde aber eher ironisch als ernst begegnet.

Es spielte dabei eine große Rolle, dass die meisten Adligen in ihrer Jugend private Militärschulen besucht hatten, in denen jugendliche Homosexualität mehr die Regel als die Ausnahme war. 1832 wurde unter Nikolaus I. der erste Strafgesetzparagraf zur Homosexualität verabschiedet – die Strafe bestand in einer Verbannung nach Sibirien. Sie kam nie zur Anwendung, weil ein solches Urteil wahrscheinlich einen für die edle Gesellschaft höchst unangenehmen gesellschaftlichen Skandal ausgelöst hätte.

Ende des 19. Jahrhunderts war die anti-homosexuelle Gesetzgebung nahezu kein Thema mehr, blühten doch die gleichgeschlechtlichen Beziehungen in der Bohème und sogar in den höchsten Adelskreisen, einschließlich der königlichen Familie. Nach der Revolution von 1905 wurde die Zensur in der Literatur abgeschafft, und man begann in Russland, homosexuelle Literatur zu veröffentlichen. Homosexuelle konnten nun ihre Gefühle in Form von Dichtung und Prosa ausdrücken.

 

Erneute Kriminalisierung in der Sowjetunion

Nach der bolschewistischen Revolution und Gründung der UdSSR wurde der Krieg gegen die Homosexualität zu einer Angelegenheit des Staates. Seit 1934 galt Sodomie wieder als Straftat, die nun mit Lagerhaft von fünf bis acht Jahren geahndet wurde. Homosexualität wurde als bürgerliches Laster abgestempelt, das – ganz im Sinne der bolschewistischen Ideologie – mit Stumpf und Stil ausgerottet werden sollte.

Bis heute noch halten die Staatssicherheitsbehörden Informationen über die wahre Zahl der wegen homosexueller Beziehungen verurteilten Menschen zurück. Der US-amerikanische Forscher Dan Healey hat festgestellt, dass die Angaben für den Zeitraum von 1934 bis 1950 unvollständig sind und für die Periode von 1951 bis 1960 sogar völlig fehlen; deshalb ist die tatsächliche Zahl der Verurteilungen nicht bekannt. Für die Zeit nach 1961 zeigt die offizielle Statistik pro Jahr etwa 1 000 Menschen, die nach Paragraf 121 des Strafgesetzbuches der UdSSR von 1960 verurteilt wurden, wobei die Zahl mit den Jahren leicht zugenommen hat. Insgesamt waren es im Zeitraum von 1961 bis 1981 exakt 22 163 Fälle. Während der 1980er-Jahre nahm die Zahl der verurteilten homosexuellen Menschen ab, bis der Paragraf 121 im Jahre 1993 abgeschafft wurde.

Die sozialen Vorurteile gegen Homosexualität nahmen in der UdSSR zusammen mit der staatlichen Verfolgung zu. In der stark ideologisch geprägten Gesellschaft, in der den Kindern von klein auf kommunistische Werte vermittelt wurden, war Homosexualität absolut verboten. Währenddessen wurde Homosexualität in den Gefängnissen und Straflagern ein Zeichen der Ausgrenzung, wobei die Vergewaltigung Gleichgeschlechtlicher dazu verwendet wurde, um die Neuzugänge und diejenigen, die die inoffiziellen Regeln des Gefängnislebens brachen, zu erniedrigen. Aus dem Gefängnis kehrten die ehemaligen Strafgefangenen mit diesem Stigma in die „freie Gesellschaft" zurück, was unweigerlich zur Wahrnehmung der Homosexuellen als Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft führte.

 

Die jüngere Vergangenheit und was bringt die Zukunft?

Nach der Abschaffung des Paragrafen 121 im Jahre 1993 verbesserte sich die Situation für eine Weile; die öffentliche Meinung begann, liberaler zu werden. Laut einer Umfrage, die das Levada-Zentrum im April 1998 durchführte, dachten 18 Prozent der Befragten, dass Homosexualität normal sei, bis 2005 stieg diese Zahl auf 20 Prozent an. In demselben Jahr waren 51 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Rechte der Homosexuellen denjenigen von heterosexuellen Menschen gleichgestellt

werden sollten – ein überwältigender Wert für das Russland nach der Sowjetunion. Aber im Laufe der Jahre erstarkte die anti-homosexuelle Propaganda wieder, nunmehr mit der Unterstützung der postsowjetischen russischen orthodoxen Kirche, die rastlos gegen die Homosexualität anpredigte und diese wie im Mittelalter zu einer Sünde erklärte.

Wie wir in diesem Überblick gesehen haben, wurden Maßnahmen gegen Homosexualität in Russland während der Regierungszeit Peters des Großen, Nikolaus I. und Josef Stalins ergriffen – die autoritären Regenten hatten das Ziel, das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft zu vermeiden, und so wurde keinerlei Toleranz gegenüber jeder Art von Abweichungen an den Tag gelegt. Inzwischen wurden in Russland neue Gesetze gegen Propaganda von Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Ehen eingeführt, begleitet von entsprechender Rhetorik in den regierungsnahen Massenmedien.

Heutzutage liegt der Schatten der strafrechtlichen Sanktionen gegen Homosexualität noch immer über der Gesellschaft, aber die wachsende Toleranz gegenüber der Lesben- und Schwulenbewegung besonders in der jüngeren Generation sollte uns hoffen lassen, dass die Situation nie wieder so sein wird wie im 20. Jahrhundert.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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