Stürzt Afghanistan ins Chaos?

Bild: Nijas Karim

Bild: Nijas Karim

Was passiert in Afghanistan, wenn die westlichen Truppen im kommenden Jahr das Land verlassen? Experten befürchten, dass die Taliban wieder stark an Einfluss und Macht gewinnen werden und so Afghanistan dasselbe Schicksal wie dem Irak droht.

Am 1. Januar 2015 wird Afghanistan, nachdem es sich von den Besatzern der USA und NATO verabschiedet hat, wieder zum souveränen Staat werden. Gleichwohl wurden die Ziele des Afghanistankriegs, der als Antwort auf die terroristischen Angriffe von „9/11" begonnen wurde, nicht erreicht. Während der 13 Jahre währenden Besatzung ist es nicht gelungen, einen stabilen Staat zu schaffen, was in einer Fortsetzung des Bürgerkriegs und Chaos resultieren könnte.

Im Oktober gab einer der Taliban-Führer, Kari Nasrullah, bekannt, dass die Taliban bis 2015 ein Islamisches Emirat errichten werden. „Sobald die westlichen Armeen Afghanistan verlassen, werden die alten Ordnungen im Land wiederhergestellt", versprach er. Das sind keine leeren Drohungen.

 

Wer wird die Regierung bilden?

„Der Abzug der internationalen Sicherheitsstreitkräfte ist damit begründet, dass bis Ende des nächsten Jahres die afghanischen Sicherheitskräfte und die afghanische Armee in der Lage sein werden, die Kontrolle und Rechtsordnung im Land selbst in die Hand zu nehmen", erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow im Gespräch mit dem russischen Fernsehen. „Bislang ist die Tendenz allerdings gegenläufig dazu: Ja näher das Abzugsdatum rückt, desto mehr Belege gibt es, dass die afghanischen Sicherheitskräfte nicht bereit sein werden", so Lawrow weiter.

Das ist auch den USA bewusst. Sonst gäbe es keine Gespräche über Abkommen mit Kabul über eine Zusammenarbeit im Militärbereich und einer strategischen Zusammenarbeit. Dieses sieht vor, dass die USA und NATO neun Militärstützpunkte in Afghanistan lassen, wo voraussichtlich 10 000 Soldaten stationiert werden sollen. Anscheinend soll in ihre Aufgaben eine Weiterführung der Ausbildung für das afghanische Militär und die Sicherheitskräfte, punktuelle Angriffe auf Terroristenstützpunkte in der Region und nötigenfalls eine Unterstützung des Kabuler Regimes fallen, vermutet der Afghanistan-Militärexperte Oberstleutnant Petr Gontscharow.

Es ist offensichtlich, dass die USA die Kabuler Regierung weiterhin unterstützen werden. Doch gibt es keine Klarheit, wer sich an die Spitze Afghanistans stellen wird. Einerseits haben die geheimen und offenen Kontakte mit den Taliban zu nichts geführt. Zur Bonner und Tokyo-Konferenz wurden sie gar nicht erst eingeladen und es scheint, dass man die Idee ihrer Einbindung in den politischen Prozess verworfen hat. Andererseits sind für den 5. April 2014 Präsidentschaftswahlen im Land angesagt und das Einzige, was die mehr als ein Dutzend registrierten Kandidaten verbindet, ist deren ablehnende Haltung gegenüber der Taliban.

Hamid Karzai wird den Präsidentenposten verlassen, nachdem er die maximal mögliche Regierungsdauer ausgeschöpft hat. Doch er ist daran

interessiert, dass an der Spitze des Landes Personen aus seinem Kreis bleiben, genauer gesagt, sein älterer Bruder Kajum Karzai. Seine Chancen, gestärkt durch seine engen Kontakte zur aktuellen Regierung, scheinen gut zu sein. Doch das Problem ist, dass Karzai und sein Clan keine Anerkennung unter den Afghanen genießen. Im Gegenteil: Sie werden als Marionetten des Westens angesehen.

Karzai gegenüber steht der ehemalige Leiter des afghanischen Innenministeriums Abdullah Abdullah. In den Wahlen von 2009 wurde er Zweiter. Er ist nicht durch Korruptionsskandale befleckt und stützt sich auf die tadschikische Elite, die den „Silowiki", der „Nördlichen Allianz", nahestehen. Unter seinen Verbündeten ist auch Muhammed Khan aus der Islamischen Partei Afghanistans, die jede ausländische militärische Präsenz im Land ablehnt.

Ein weiterer Favorit ist zum heutigen Zeitpunkt Abdul Rasul Sayyaf. Die USA nehmen allerdings an, dass es 1996 Sayyaf war, der Osama bin Laden nach Afghanistan eingeladen hatte. Andererseits befindet sich im Team dieses Präsidentenkandidaten einer der im Westen einflussreichsten Politiker Afghanistans, der früher als Feldkommandant der Mudschahid Ismail-Khan.

 

Drei Szenarien beschreiben den Zerfall des Landes

Die Amerikaner haben eine „Winterkampagne" gegen die Taliban angekündigt, obwohl die Kämpfe früher nur in der warmen Jahreszeit geführt wurden. Im Februar werden 30 000 amerikanische Soldaten aus Afghanistan abziehen. Es bleiben 20 000. Es ist offensichtlich, dass die Antiregierungskräfte versuchen werden, unter diesen Bedingungen wenn nicht den Süden des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen, so doch zumindest die Wahlen platzen zu lassen. Die ohnehin schon schwache Legitimität der Kabuler Regierung könnte damit endgültig diskreditiert werden. Wem würden dann die im Land verbleibenden amerikanischen Kräfte helfen?

Die weiteren Szenarien sind in der interinstitutionellen Entwicklungsprognose zur Situation in Afghanistan zu finden, welche für die Führung Russlands von führenden Experten zur internationalen Situation, Vertretern des Außen- und Verteidigungsministeriums und anderen staatlichen Organen vorbereitet wurde.

Die Experten halten drei Szenarien einer Entwicklung der Situation nach

dem Abzug der NATO-Streitkräfte für möglich: eine Regierungsübernahme durch die Taliban, ein langwieriger Bürgerkrieg oder eine Teilung der Einflussgebiete zwischen den Taliban und der bestehenden Regierung. Nach Einschätzung der meisten Beteiligten an der Situationsanalyse ist bei näherer Betrachtung die „informelle Teilung der Einflusssphären" am wahrscheinlichsten, „doch die Positionen der Taliban werden stärker werden, und bei einer Verschlechterung der Situation im Land sind eine starke Destabilisierung und ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen", heißt es.

Im Grunde ist das eine Prognose des Zerfalls des Landes. Dasselbe ist im Irak passiert: eine schwache zentrale Regierung, ein Abdriften der Provinzen, insbesondere des irakischen Kurdistans und ein Partisanenkampf der Sunniten gegen die schiitische Regierung.

 

Der Autor ist politischer Berichterstatter des Radiosenders „Stimme Russlands".

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