Bild: Konstantin Maler
Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine – Kämpfe auf dem Maidan, Sturz des Präsidenten Janukowitsch, mögliche Abspaltung der Krim, Unruhen in der Ostukraine – markieren den Anfang einer neuen Etappe der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Es wird wohl kaum zu einem bewaffneten Konflikt kommen, aber wo die neue Grenze zwischen Russland und Europa verlaufen wird, ist offen.
Der Kalte Krieg endete mit dem Zerfall des Ostblocks und der UdSSR selbst. Die im Warschauer Pakt organisierten Staaten Mittel- und Osteuropas traten nach und nach der Europäischen Union und der Nato bei. Auf diese Weise sind die internationalen Strukturen bis dicht an die Grenze des neuen Russlands vorgedrungen.
Dennoch halten sich im Westen die Befürchtungen, die UdSSR könnte wiederauferstehen. Zu den prominentesten Vertretern dieser Auffassung gehört die ehemalige US-Außenministerin (2009-2013) Hillary Clinton. Clinton hatte im Januar 2014 die Warnung ausgesprochen, dass die alte UdSSR in neuem Gewand als Zollunion oder Eurasische Union in Erscheinung treten könnte.
Noch deutlicher formulierte diese Idee Zbigniew Brzeziński, der von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter
war: „Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr; mit der Ukraine aber verwandelt sich das Land automatisch in ein Imperium.“ Brzeziński ist anerkanntermaßen ein führender Experte im Bereich internationale Beziehungen. Unfehlbar jedoch ist auch er nicht. Schließlich gibt es in der Geschichte keine Beispiele dafür, dass ein Imperium, das einmal zerfallen war, wiederauferstanden wäre. Das neue Russland wird nie wieder eine Sowjetunion oder ein russisches Imperium werden. Hierfür fehlen sowohl die ideologischen als auch die politischen Voraussetzungen.
Ohne die Ukraine platzt Russlands Traum vom Ost-Wirtschaftsraum
Moskau ist jedoch tatsächlich an einer Wiederbelebung der wirtschaftlichen Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken interessiert. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass Russland an zwei Weltwirtschaftszentren grenzt, nämlich die EU und China, mit deren Marktvolumen Russland in keiner Weise konkurrieren kann. Möglicherweise wäre Putin sogar bereit gewesen, sich einem dieser Wirtschaftsgiganten als gleichberechtigter Partner anzuschließen. Es hat ihn nur niemand gefragt. Und nur als rohstoffreiches Anhängsel möchte man in Moskau nicht fungieren.
Hieraus entstand die Idee des Einheitlichen Wirtschaftsraums (EWR), also eines gemeinsamen Marktes für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte, geschaffen durch Russland, Kasachstan und Belarus. Auf den Beitritt zu dieser Gemeinschaftsstruktur bereiten sich derzeit auch Armenien und Kirgisien vor. Im Mai sollen die Beitrittsdokumente fertig sein. Aber ohne die Ukraine mit ihren 45 Millionen Einwohnern und ihrer gut entwickelten Industrie ist das Marktvolumen des EWR zu gering, um mit den anderen Wirtschaftszentren mithalten zu können.
Das wissen die USA und die EU, die die Ukraine kontinuierlich immer weiter in ihren Einflussbereich hineingezogen haben, nur allzu gut. Den Abschluss dieses Prozesses sollte die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU bilden, welches den Weg zu einer eurasischen Integration mit Russland versperrt hätte.
Bekanntermaßen fand die Unterzeichnung dieses Assoziierungsabkommens, die für Ende November letzten Jahres auf dem EU-Gipfel in Vilnius geplant war, nicht statt. Offensichtlich hatte der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch beschlossen, noch ein wenig mit der EU und Russland zu feilschen. Er hatte vermutlich darauf spekuliert, von Russland einen Bonus in Form von Krediten und vergünstigten Gaslieferungen zu erhalten, wenn er die Vertragsunterzeichnung mit der EU platzen lässt.
Unter dem Druck des Maidan, auf dem die Anhänger einer europäischen Integration der Ukraine protestierten, gab Janukowitsch die Macht schließlich fast widerstandslos ab. Die Politiker, die auf ihn folgten, stellten die Weichen sofort wieder in Richtung Annäherung der Ukraine an den Westen und stellten Moskau so vor eine schicksalhafte Entscheidung.
Das „Abdriften“ der Ukraine ist Russlands größtes innenpolitisches Problem
Die Ängste der amerikanischen und europäischen Politiker vor einer Wiederauferstehung der UdSSR setzen Russland nicht nur wirtschaftlich unter Druck, sondern führen auch zu Sicherheitsproblemen.
Die Nato hat sich nach dem Zerfall der UdSSR durch den Beitritt der Länder Osteuropas und der ehemals sowjetischen baltischen Staaten erheblich ausgeweitet und so die russische Grenze erreicht. Ihr Einflussbereich hat sich weit über die Atlantischen Grenzen hinaus ausgedehnt, bis hin nach Afrika (Libyen), in den Nahen Osten (Irak) und nach Zentralasien (Afghanistan). Es wird kaum möglich sein, die russischen Strategen davon zu überzeugen, dass von der Nato keine Bedrohung ausgeht. Noch mehr beunruhigt sie allerdings die mögliche Verlegung amerikanischer Luftabwehrsysteme in die in Richtung Nato driftende Ukraine, denn diese könnten die wichtigste militärische Trumpfkarte Russlands, die Bodenraketen, vernichten.
Und zu guter Letzt fällt es Moskau schwer, sich damit abzufinden, dass gerade die Ukraine, die gemeinsam mit Russland das Rückgrat der slawisch-orthodoxen Zivilisation bildet, unter den Einflussbereich der westlichen und transatlantischen Zivilisation gerät. Wenn man die äußerst engen persönlichen Beziehungen zwischen den Bewohnern der beiden Länder berücksichtigt, die während der vergangenen 350 Jahre einen gemeinsamen Organismus bildeten, ist das „Abdriften“ der Ukraine das größte innenpolitische Problem Russlands.
Somit ist die Reaktion Moskaus auf den Wunsch der russischsprachigen Bevölkerung der Krim – immerhin 90 Prozent der dortigen Bevölkerung – ein Teil Russlands zu werden, alternativlos. Über den Ausgang des für den 16. März geplanten Referendums auf der Krim bestehen keinerlei Zweifel.
Der Kalte Krieg ist in den Köpfen noch immer verankert
Der Westen weiß offensichtlich, wie sehr Russland das „Abdriften“ der Ukraine schmerzt, und mit der Situation bezüglich der als „Trostpflaster“ zu sehenden Eingliederung der Krim in die Russische Föderation hatte man wohl bereits gerechnet. Anders lässt sich die phlegmatische Reaktion des Westens nicht erklären. Die EU legte die Verhandlung über Visaerleichterungen und über den Abschluss eines neuen Rahmenabkommens für die Zusammenarbeit mit Russland auf Eis. Aber hier gab in den letzten Jahren ohnehin schon wenig Bewegung. Man drohte außerdem damit, den G-8-Gipfel in Sotschi zu boykottieren, was nicht mehr als ein Nadelstich wäre. Wirtschaftssanktionen wurden bisher noch nicht in Kraft gesetzt. Die USA spricht von punktuellen Visasanktionen gegen russische Beamte. Aber eine entsprechende Liste ist noch nicht fertig. Die militärische Zusammenarbeit wurde abgebrochen, sodass wir also keine amerikanischen Soldaten beim Panzer-Biathlon in der Nähe von Moskau sehen werden. Außerdem wurde die Anreise von vier russischen Agrarexperten in die USA abgesagt.
Es möchte wohl niemand den wirtschaftlichen Schaden riskieren und die Verhandlungen mit Moskau blockieren, solange die Probleme mit Syrien, dem Iran und Afghanistan noch schwelen. Denn die Krim ist nur ein Teil der Krise, und ein äußerst kleiner obendrein.
Noch unklar ist beispielsweise, welches Schicksal die östlichen Regionen
der Ukraine erwartet, wo es auch viele ethnische Russen gibt, die sich keiner prowestlichen Regierung unterordnen möchten. Aber viel wichtiger ist es, wie sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen weiterentwickeln werden, denn anscheinend hat keine der Parteien die Mentalität des Kalten Kriegs wirklich hinter sich lassen können. Und schließlich besteht auch noch das Problem der Bildung einer neuen Weltordnung, für deren Existenz die Krisen im Nahen Osten, Nordafrika und jetzt auch in der Ukraine ein klarer Beleg sind.
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