Bild: Konstantin Maler
Schon vor Beginn der Krim-Krise machte sich die Europäische Rundfunkunion (EBU), Veranstalterin des Eurovision Song Contests (ESC) 2014, Gedanken, was passiert, sollte Russland den Wettbewerb gewinnen – in diesem Fall wäre nämlich Moskau Gastgeber für 2015. In einem Schreiben an den russischen Fernsehsender „Erster Kanal“ und die WGTRK, die „Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft“, verlieh sie bereits im vergangenen November der Sorge Ausdruck, dass das zuvor in Russland verabschiedete „Gesetz über das Verbot homosexueller Propaganda“ zu niedrigeren Einschaltquoten in Europa führen könnte. Das Gesetz wurde außerhalb Russlands heftig kritisiert. Nun steht Russland wegen der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation und der jüngsten Entwicklungen in der Ukraine wieder im Kreuzfeuer der internationalen Kritik.
ESC – ein Publikumsmagnet in Russland
Der ESC ist in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken äußerst populär – das Publikum in diesen Ländern ist gigantisch und zugleich das aktivste unter den Teilnehmerländern. Auch die in Russland mit Befremden zur Kenntnis genommene und viel diskutierte Teilnahme des österreichischen Travestiekünstlers Conchita Wurst wird sicher nicht die Ausstrahlung des ESC-Finales am 10. Mai verhindern. Ungeachtet aller entsprechenden Petitionen besorgter Bürger und Organisationen ist der ESC für die Fernsehsender ein zu großer Leckerbissen.
Dieses Jahr wird Russland durch die Geschwister Tolmatschow vertreten. Die 17-jährigen Zwillingsschwestern Marija und Anastasija gewannen bereits 2006 den „Junior Eurovision Song Contest“ mit dem Lied „Wessenni Dschas“ („Frühlingsjazz“), den sie gemeinsam mit ihrer Mutter geschrieben hatten. Damals konnte ihr Sieg die Enttäuschung über den von Dima Bilan knapp verfehlten ersten Platz beim ESC in Athen wettmachen.
Die Tolmatschow-Schwestern werden in Kopenhagen ihren Song „Shine“ präsentieren, der von Filipp Kirkorow komponiert wurde. Kirkorow belegte 1995 beim ESC in Dublin Platz 17 und agiert seitdem im Hintergrund der Veranstaltung, mal als Autor, mal als Produzent. Dabei arbeitet er nicht nur für russische Contest-Teilnehmer. Zwar hat noch keiner seiner Schützlinge gewinnen können, doch die Ergebnisse sind relativ gut. Zudem können die von ihm gecoachten Interpreten sich einer gehörigen Publicity in Russland sicher sein. Kirkorow ist immer auf der Gewinnerseite. Nur wenigen russischen Künstlern gelingt es, ihren Namen so erfolgreich zu Geld zu machen.
Unfreiwillige Botschafterinnen Russlands
Auch der Song „Shine“ hat großes Hit-Potenzial. Doch die Chancen vor dem Hintergrund der übrigen 36 Beiträge einzuschätzen, ist schwierig. Die Wettbüros setzen im Moment vor allem auf die Beiträge aus Aserbaidschan, Schweden, Norwegen, Dänemark, Ungarn, Belgien, Rumänien und Großbritannien. Aber ob der russische Beitrag nun besser oder schlechter ist, könnte in diesem Jahr ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen. Denn in diesem Jahr kann die Politik einen massiven Einfluss auf das Abstimmungsergebnis haben – Russland sieht wohl einer ungerechten Punktevergabe entgegen.
Die Tolmatschow-Schwestern spüren das bereits. Die beiden sympathischen Mädchen haben sich gut in der Pop-Welt eingerichtet und stehen nun plötzlich an vorderster politischer Front. Denn der britische Journalist William Lee Adams vermutet hinter der für neutrale Ohren eher banal anmutenden Textzeile „Living on the edge, close to the crime – cross the line a step at a time“ propagandistische Absichten. Er hat wohl statt „crime“ (zu dt. „Verbrechen“) „Crimea“, die englische Bezeichnung für die Krim, verstanden und startete im Internet eine Kampagne für den Ausschluss Russlands vom ESC 2014. Die Europäische Rundfunkunion indes hat den Text des russischen Beitrags schon längst abgesegnet und hatte keinerlei Beanstandungen. Die Initiative des Journalisten Adams kommentierte sie nicht.
Man darf nicht vergessen, dass sich diese Ereignisse vor dem Hintergrund eines Informationskriegs abspielen, bei dem die Kampagne für den Ausschluss im allgemeinen Bewusstsein bereits als faktischer Ausschluss
Russlands gilt. Und die Tolmatschow-Schwestern müssen nun, anstatt zu proben, auf zahlreiche Fragen zur Krim Rede und Antwort stehen.
Wahrscheinlich werden wir am 10. Mai 2014 in Kopenhagen die politischste Abstimmung in der Geschichte des Eurovision Song Contests erleben. Die Qualität des russischen Beitrags wird zweitrangig sein und auf einen Sieg kann Russland sicher nicht hoffen. Dennoch kann ein überzeugender Beitrag der Tolmatschow-Schwestern eine Botschaft sein, die geeignet ist, sich positiv auf das Image Russlands auszuwirken, ähnlich wie bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi. Der Eurovision Song Contest könnte dann für einen neuen Anfang stehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Zeitschrift "Ogonjok".
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