Die Geister, die Janukowitsch rief

Bild: Alexej Jorsch

Bild: Alexej Jorsch

Der Ukraine-Konflikt bringt die Grundprinzipien der Weltordnung ins Wanken. Eine Beendigung der Kämpfe ist nicht in Sicht – hingegen liegt die gefährlichste Phase wohl noch vor uns: die Ereignisse um die für den 25. Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen.

Die Situation in der Ukraine ist ein Patt. Die Regierung ist nicht in der Lage, die Unordnung und die Wirtschaftsprobleme in den Griff zu bekommen. Die „Volksrepubliken" im Osten können sich nicht als verantwortungsvolle Kraft positionieren, die sich auf die Mehrheit der ansässigen Bevölkerung stützen könnte. Die auf der Bühne vertretenen, nicht im Rampenlicht stehenden Darsteller sind unfähig, in einen Lösungsmodus umzuschalten.

Seit den tragischen Ereignissen in Kiew in der zweiten Februarhälfte ist das Feld der Rechtstaatlichkeit zerstört. Die Gesetzgebungsnormen fielen zuerst unter dem revolutionären Andrang und wurden dann vom Bumerang-Prinzip ersetzt: „Wenn ihr das dürft, dürfen wir das auch". Unter den Bedingungen eines von historisch-kulturellen Unterschieden zersplitterten Landes führt das schnell zu einer Polarisierung: Der „Maidan" wird von einem „Antimaidan" beantwortet, nationalistische Gruppierungen provozieren „antifaschistische" Banden, der Versuch einer Monopolisierung der Zentralmacht durch eine Gruppe führt zu einem Ausschluss der anderen.

Demokratische Verfahren wie Wahlen, die den Prozess in einen Legitimitätsrahmen zurückführen sollen, werden selbst ohne solche Rahmen durchgeführt. Doch ohne Wahlen wird die Ukraine gänzlich in ein Rechtsvakuum abdriften. Die Meinung ist berechtigt, dass allen Wahlen ein Prozess der nationalen Einigung vorangestellt sein sollte, wie es etwa beim Runden Tisch in Polen 1989 der Fall war, oder auf einer Verfassungstagung passieren könnte. Doch es ist unklar, unter welchen Bedingungen man ihre Teilnehmer auswählen müsste. Der Zusammenbruch des politischen Systems und der Verlust einer inneren Stütze haben einen Trichter geschaffen, in den außenstehende Staaten förmlich hineingesogen werden. Diese Staaten reagieren auf die Hilferufe derer, bei denen sie die eigenen Ziele am ehesten verwirklichen können.

Für Russland hatte die Angliederung der Krim eine eigene historische und psychologische Motivation, und damit ist das Streben Moskaus nach neuen Gebietsaneignungen offenbar beendet. Das nächste Ziel ist die Umgestaltung der Ukraine, um ihr die Perspektive zu nehmen, zu einem konsolidierten, antirussisch eingestellten Staat zu werden.

Die Billigung der Handlungen von Aktivisten im Osten der Ukraine kann in der Logik der gesamten russischen Außenpolitik gesehen werden. Trotz der Behauptung, es gebe eine massive Anwesenheit russischer Agenten im Südosten des Landes, wurden bislang keine überzeugenden Beweise dafür geliefert. Doch aus dem festen Wunsch Russlands, eine Niederlage der Selbstverteidigungskräfte nicht zuzulassen, wird kein Hehl gemacht. Die Niederlage der Volksmilizen würde als Niederlage des Kremls aufgefasst werden. Für Moskau ist die Anti-Kiew-Bewegung im ukrainischen Südosten der Beleg dafür, dass bei der Umgestaltung des Staatsgebildes sowohl auf die Interessen der Bürger dieses Landesteils als auch auf die Russlands eingegangen werden muss.

 

Russlands Außenpolitik hat einen Schock ausgelöst

Doch die diametral gegensätzlichen Standpunkte in der Ukraine stellen nur ein neues Niveau eines großen Spiels dar. Moskau ist durch die eigenen Handlungen auf große Ablehnung im Westen gestoßen. Russland beginnt eine neue Beziehung mit dem Westen, die in ihrer Psychologie mit dem Kalten Krieg vergleichbar ist. Bislang gilt das Trägheitsmoment, doch bald

werden für Russland ein Umbau seines Systems der internationalen Beziehungen und eine Korrektur des eigenen Wirtschaftsmodells zugunsten eines Verzichts auf die Integration in globale Märkte nötig werden. Es ist unklar, wie genau der Kreml die wirtschaftlichen Folgen berechnet hat, doch die Reaktion des Westens wurde bedacht und der Schaden, auch durch Sanktionen, als hinnehmbar angesehen.

Das Ziel Moskaus ist es, die „rote Linie" direkt zu fixieren, die einen Strich unter der postsowjetischen Periode ziehen würde, sowie, den eigenen Status im Vorfeld der Ausbildung einer neuen Weltordnung zu heben. Die Entschlossenheit Russlands in der Krim-Krise zeigte nicht nur den Ernst dieser Einstellung, sondern schnitt auch in vielen Dingen den Weg für einen Rückzug ab.

Die Europäische Union ist verstört. Ihren natürlichen Platz im Konflikt um die Ukraine kann sie nicht finden. Die Realpolitik gehört nicht zu ihrem Profil und eine selbstständige Position wird nicht ausgebaut. Und wenn der Logik nach es auch die EU sein müsste, die die aktivsten Bemühungen zur Beendigung der ukrainischen Krise unternehmen müsste, so hat sie die Initiative doch verloren. Nach dem Kalten Krieg gewöhnte sich die „Alte Welt" an die komfortable Position, als man sich nicht besonders vor Russland fürchtete und die Vorteile einer Kooperation genoss. Die Handlungen des Kremls haben nun einen Schock ausgelöst und die Angst vor der Wiederholung der Albträume der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – Weltkriege, die atomare Bedrohung und der Kampf der Ideologien – wachgerufen.

Die Vereinigten Staaten müssen sich verstärkt mit der Ukraine und ihrer Politik beschäftigen. Der Grund liegt nicht so sehr in der Ukraine selbst, sondern darin, dass Amerika zum ersten Mal seit vielen Jahren einen harten und kompromisslosen Widerstand gegen die eigenen Handlungen erfahren hat. Washington war auf eine so machtvolle Antwort aus Moskau nicht vorbereitet. Bis zu den Ereignissen in der Ukraine sah man Russland in den USA als Verursacher von Kopfschmerzen, aber nicht als fundamentales Problem an. Nun beginnt man, in Russland nicht unbedingt einen vollwertigen Gegner, aber doch einen Anwärter für eine globale Rolle zu sehen.

Washington wird sich nicht mit den feinen Verflechtungen der ukrainischen Innenpolitik auseinandersetzen, deshalb werden klare Schemata zum Einsatz kommen, die das Bild der Ukraine folgendermaßen zeichnen: Es gibt, wenn auch eine unvollkommene, doch eine demokratieliebende Regierung, die auf der Welle des Widerstands gegen den Tyrannen aufgekommen ist, und Banditen, die von den Erben des Imperiums des Bösen inspiriert und geleitet werden.

 

Missbraucht die USA das globale Wirtschaftssystem?

Mithilfe von Sanktionen rechnen die USA damit, Moskau von seinem Kurs abzubringen. Die Chancen dafür sind allerdings minimal, man wird den Druck weiter erhöhen müssen. Und weil es eigentlich nicht um die Ukraine geht, sondern ums Prinzip, wird der Gegensatz beider Länder noch größer werden.

Die Sanktionen gegen Russland werden vermutlich auch einen langfristigen Effekt haben. Die Vereinigten Staaten zeigen vielleicht zum ersten Mal, dass sie die Wirtschaft der Welt tatsächlich lenken. Die Zahlungssysteme VISA und MasterCard schalten Finanztransaktionen aus, da diese unter amerikanische Sanktionen fallen. Globale IT-Firmen sind bereit, ihre Beziehungen mit „unpassenden" Kunden einzufrieren.

Solche Maßnahmen wurden auch früher schon angewendet, doch immer gegenüber Ländern, die Russland vielfach sowohl in politischem als auch wirtschaftlichem Gewicht unterlegen waren. Die Verwendung dieses

Mittels gegenüber Russland verschärft die Frage, die sich ohnehin großen, aber mit den USA nicht verbündeten Staaten stellt: Kann man sich auf ein globales Wirtschaftssystem verlassen, wenn es so leicht im Interesse des dominierenden Systems politisch beeinflusst werden kann? Vor dem Hintergrund einer Handels- und Finanzsegmentierung in der Welt, der Schaffung von Wirtschaftsblöcken statt einheitlichen Regeln, stimuliert ein Sanktionsdruck dieser Art eine politische und wirtschaftliche Restrukturierung der Welt, die eine multipolare Ordnung hervorrufen kann.

Betrachtet man die Entwicklungen in den letzten Monaten, mutet es fast schon seltsam an, mit welchen Kleinigkeiten alles begonnen hat. Hatte Wiktor Janukowitsch auch nur die leiseste Ahnung, welche Geister er aus der Flasche lassen würde, als er vor einem halben Jahr die Vereinbarung über eine Assoziierung mit der EU vertagte?

 

Fjodor Lukjanow ist der Präsidiumsvorsitzende des Rats der Außen- und Verteidigungspolitik.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Gazeta.ru

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