Bild: Alexej Jorsch
Die Referenden über die staatliche Unabhängigkeit der Gebiete Lugansk und Donezk haben die Situation in der Ukraine grundlegend verändert. Es ist offensichtlich, dass das Ergebnis des Referendums weder in der Welt noch in Russland anerkannt wird, ungeachtet der grundsätzlich positiven Haltung Moskaus gegenüber der Volksabstimmung.
Achtet man auf die Tonart, die in Donezk und Lugansk zuletzt angeschlagen wurde, erkennt man das offensichtlich auch in der Südostukraine. Es wäre deshalb falsch, das Ergebnis des Referendums und die anschließende Verkündung der Unabhängigkeit als eindeutigen Entschluss zu einem Austritt aus der Ukraine aufzufassen. Die Ergebnisse sind wohl eher eine anschauliche Demonstration der Tatsache, dass dem Land ohne einen breiten gesellschaftlichen Dialog das unausweichliche Auseinanderbrechen droht.
Eine Lösung außerhalb der Ukraine ist nicht mehr möglich
Einem solchen Dialog steht jedoch die Kiewer Übergangsregierung im Weg. Diese hat den Umsturz herbeigeführt und betrachtet ihre politischen Gegner als besiegt. Oder sie ist der Meinung, dass die Gegner – egal auf welche Weise – besiegt werden müssten. Das Ziel der Übergangsregierung besteht offensichtlich darin, die ukrainischen Regionen mit einer russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit aus dem aktuellen Regierungsbildungsprozess auszuschließen.
Die Position Russlands dazu ist diametral. Die Worte des russischen Außenministers Sergej Lawrow über die Notwendigkeit innerukrainischer Verhandlungen sollten so verstanden werden, wie sie tatsächlich formuliert wurden. „Wir sind überzeugt davon, dass die Verhandlungen so schnell wie möglich erfolgen sollten. Es ist bedauerlich – das möchte ich noch einmal unterstreichen –, dass es in Washington und Kiew Kräfte gibt, die sich dagegen auflehnen, die betroffenen Regionen für einen Dialog heranzuziehen. Und eben aus diesem Grund wird die Roadmap, die der OSZE-Vorsitzende ausgearbeitet hat, entgegen unserer Bereitschaft nicht öffentlich gemacht", erklärte Lawrow.
Um die Logik Moskaus verstehen zu können, sollte man das jüngste Treffen von Wladimir Putin mit seinem Schweizer Kollegen Didier Burkhalter in Moskau genauer analysieren. Bei dem Treffen wurden eine Roadmap und eine verstärkte Rolle der OSZE bei der Lösung der Krise vereinbart. Aber einen Ausweg aus der ukrainischen Krise hat bisher niemand aufgezeigt. Auch wenn die Ukraine-Frage bereits in einem bilateralen russisch-US-amerikanischen Format in Genf de facto geklärt wurde, hat sich die politische Krise in der Ukraine mittlerweile vollkommen verselbstständigt. Eine Lösung außerhalb der Ukraine, ohne eine Einbindung der wichtigsten innerpolitischen Konfliktparteien in einen Dialog, ist wohl kaum mehr möglich.
Davon sprach auch Präsident Putin, der die Idee eines Runden Tischs unterstützt: „Immer wenn unsere Kollegen in Europa und den USA die
Situation in die Sackgasse geführt haben, wiederholen sie permanent: Jetzt liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems und damit die gesamte Verantwortung in den Händen Moskaus."
Die entscheidenden Erklärungen des Treffens, die die russische Strategie für diesen Konflikt demonstrieren, war die Bitte des Präsidenten um eine Verschiebung des Referendums in der Südost-Ukraine und die Frage, welche Garantien die Bevölkerung nach den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine erhalten werden. Dieser Vorschlag war faktisch ein Aufruf zum Dialog an die neue ukrainische Regierung.
Die Bedingung für eine Verschiebung des Referendums war die Aufnahme des Dialogs zwischen Kiew und den Regionen im Südosten des Landes. Die Voraussetzung für den Dialog kann nur die Einstellung der militärischen Aktionen gegen die Opposition und die beginnende Entwaffnung der Aufständischen durch die Regierungstruppen sein, von der im Genfer Memorandum vom 17. April die Rede war. Der Führer der Bewegung „Jugo-Wostok" („Südosten"), Oleg Zarjow, erklärte seine Bereitschaft zur Verschiebung des Referendums für den Fall, dass die neue ukrainische Regierung die Bedingungen der Genfer Vereinbarungen einhalte und die Bevölkerung sich mit diesem Schritt einverstanden erkläre.
Die am Rande des Moskauer Treffens angeschnittene Frage der Garantien für die Opposition im Speziellen und für die Bevölkerung im Südosten der Ukraine im Allgemeinen ist von großer Bedeutung. Sie bestimmt den Inhalt der zukünftigen Verhandlungen – falls diese überhaupt stattfinden werden. Es war dabei die Rede davon, das Format dieser Verhandlungen zu vereinbaren, die Liste der Teilnehmer aus dem Südosten festzulegen und die grundlegenden Tagesordnungspunkte vorzugeben. Danach sollte dieser Arbeitsstand als „Erbe" an den zukünftigen Präsidenten der Ukraine übergeben werden. Bei diesem wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Pjotr Poroschenko handeln. Dies lässt hoffen, dass der Kompromiss nach den Wahlen nicht rückgängig gemacht wird. Doch vorerst erklärt der Präsidentschaftskandidat, dass er keine Alternative zu den militärischen Aktionen sehe.
Moskau muss an den Verhandlungstisch
Es besteht kein Zweifel: Russland ist daran interessiert, dass die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine stattfinden. Moskau benötigt legitime Verhandlungspartner in Kiew. Denn ansonsten wird die ukrainische Regierung ausschließlich mit dem Westen kommunizieren, wo dann auch die weitere ukrainische Geschichte geschrieben wird. Die neue ukrainische Regierung hat das natürlich erkannt, selbst wenn sie auch weiterhin Angst
und Schrecken verbreitet und so das In- und Ausland zu überzeugen versucht, dass Russland eine Entsendung seiner Truppen ins Land und eine Unterbindung der Wahlen beabsichtige.
Russland hat jedoch ein starkes Interesse an einer stabilen Ukraine. Die gegenwärtig indirekte Beteiligung Russlands an der ukrainischen Krise war eine unausweichliche Reaktion auf die Destabilisierung des Nachbarlandes, das für Moskau von außerordentlicher internationaler, wirtschaftlicher, historischer und menschlicher Bedeutung ist. Eine anhaltende Destabilisierung könnte dafür sorgen, dass die im Laufe von Jahrhunderten herausgebildeten gemeinsamen Beziehungen zerstört und damit der Boden für eine effektivere Politik der Abspaltung der Ukraine von Russland betrieben werden könnte.
Ein anderes Interesse Russlands ist ebenso offensichtlich: die Föderfalisierung der Ukraine. Russland möchte auch in der Zukunft seinen Einfluss in der Ukraine, selbst bei einem unerwarteten Regierungswechsel, geltend machen können. Aber dieser Föderalismus könnte auch für die Ukraine selbst zu einem wichtigen Stabilisator werden, da er jede zukünftige Regierung in Kiew dazu zwingen würde, sich um die Aufrechterhaltung der Balance zu kümmern – sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik.
Das russische Szenario für die Ukraine ist sehr optimistisch. In der Realität jedoch könnte der Prozess des Zerfalls der staatlichen Institutionen andauern und früher oder später unumkehrbar sein. In diesem Falle wird der Versuch, den russischsprachigen Teil der Gesellschaft zu isolieren, tatsächlich zu einem Auseinanderbrechen der Ukraine und zu einer Ausbreitung der Proteste im Land führen.
Betrachtet man das, was sich im vergangenen Winter ereignet hat, als eine Art Revolution, so fällt einem die Unvollständigkeit des Prozesses ins Auge.
Der Ukraine stehen noch nie dagewesene wirtschaftliche Probleme und damit eine Zunahme von sozialen Protesten bevor. Der Konsens der Eliten ist äußerst fragil, und eine Reihe von Politikern, allen voran Julia Timoschenko, ist bereit, selbst dann um die Macht zu kämpfen, wenn die Gefahr eines zweiten „Maidans" droht. Die ukrainische Revolution, wenn man sie so nennen mag, hat bisher weder zu einer Erneuerung der Eliten und dem Erscheinen neuer Akteure noch zu einer Neuverteilung des Eigentums oder zu einer großen Zahl an Opfern geführt. Wenn die Verhandlungen jedoch nicht bald aufgenommen werden sollten, könnte dies alles schon sehr bald Realität werden.
Der Autor ist Professor an der Higher School of Economics in Moskau.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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