Walerija Nowodworskaja: Die Mutter des Protestes ist tot

Bild: Natalja Michajlenko

Bild: Natalja Michajlenko

Am 12. Juli 2014 starb die Menschenrechtlerin Walerija Nowodworskaja in Moskau. Zu Sowjetzeiten wurde die unbeugsame Aktivistin an die zwanzig Mal verhaftet und vor Gericht verurteilt. Bis zuletzt setzte sich das Gewissen der Menschenrechtsbewegung für Schwache und Regimegegner ein.

Die Aktivistin Walerija Nowodworskaja hatte immer ein Herz für die Unterdrückten, Schwachen und Gegner des Regimes. Während ihres Wirkens hielt sie Fürsprache für den tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew, für die Georgier Gamsachurdia und Saakaschwili bis hin für die ukrainischen Nationalisten. An ihrer Wohnungstür fand sie nicht selten Zettel mit Beleidigungen und Drohungen. An das Telefon zu Hause ging nur ihre Mutter Nina Fedorowna. Wenn der Anrufer nicht glaubhaft darlegen konnte, dass er Nowodworskaja persönlich kennt, legte sie wieder auf.

Am Tag ihres Todes am 12. Juli waren sich alle einig, dass Walerija Nowodworskaja das Gewissen der Menschenrechtsbewegung war.

 

Wie alles begann

Als Nowodworskaja 19 Jahre alt war, das war im Jahr 1969, verteilte sie – ohne Mitglied einer Protestorganisation zu sein oder sich mit jemandem abgesprochen zu haben – Flugblätter mit ihrem Gedicht, das den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei verurteilte. Sie kaufte sich eine Eintrittskarte für einen Platz auf dem Rang des Kremlpalastes, in dem nicht nur die Parteitage durchgeführt, sondern auch Konzerte „für das Volk" veranstaltet wurden, und warf die Flugblätter von oben in den großen Zuschauerraum herab. Bei dem Text handelte es sich nach den damaligen Gesetzen um antisowjetische Agitation und Verleumdung der sowjetischen Gesellschaft. Die erste Festnahme folgte prompt.

 

Jahre des Kampfes

Nowodworskaja wurde nach Kasan zur zwangsweisen psychiatrischen Behandlung geschickt. Die zwei Jahre, die sie in Krankenhäusern und im SISO, wie die Gefängnisse für Untersuchungshäftlinge in Russland heißen, verbrachte, schädigten nachhaltig ihre Gesundheit – bis zu ihrem Tod hatte sie mit Asthma, Diabetes, Schmerzen in den Beinen und Problemen mit dem Herzen zu kämpfen. Aber in den Jahren der ständigen Festnahmen stellte sich heraus, dass Nowodworskaja über einen außerordentlichen Mut und einen unbeugsamen Charakter verfügte. Was man mit ihr auch anstellte, man vermochte nicht, sie zu brechen. Sie blieb auch weiterhin ein prinzipieller Feind der sowjetischen Führung.

Nowodworskaja war Mitglied von Dissidentengruppen, die verbotene Literatur verteilten, nahm auch weiterhin an Einzel- oder Gruppenaktionen

und Mahnwachen teil. Sie wurde festgenommen. Sie wurde verhört. Sie wurde eingeschüchtert. Man steckte sie ins Gefängnis und in Sonderkliniken. Zweimal führte Nowodworskaja einen totalen Hungerstreik durch, das heißt, sie weigerte sich, sowohl feste als auch flüssige Nahrung aufzunehmen. Man musste sie zwangsernähren, und nach den Worten des Geistlichen Jakow Krotow beschädigte die Sonde ihre Stimmbänder, woraufhin Nowodworskajas Stimme eine niedrigere Stimmlage bekam. Ihre tiefe Stimme wurde zu ihrem Markenzeichen – sie war bereits nach den ersten Worten zu erkennen. Später schloss sie die Hochschule für Fremdsprachen ab und verdiente zwischen den Aufenthalten im Gefängnis und den psychiatrischen Anstalten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie medizinische Literatur aus dem Französischen übersetzte. Ihr ganzes Leben lang wohnte sie mit ihrer Mutter zusammen.

 

Mutterfigur des Protests

Walerija Nowodworskaja war eine der radikalsten Kritikerinnen des sowjetischen Systems, Stalins und des Stalinismus und nach 1991 des postsowjetischen Totalitarismus. Jede ihrer Äußerungen glich einer Ohrfeige, die sie ihren ideologischen Gegnern verpasste. Aber nicht nur das machte sie sympathisch. Nowodworskaja zeichnete sich durch eine eindrucksvolle menschliche Wärme und große Intelligenz aus. Für die Aktivisten der neuen Demokratiebewegung in Russland war sie so etwas

wie eine moralische Instanz, an der sie ihr eigenes Verhalten messen konnten.

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt, ob spätabends oder am frühen Morgen, konnte sie Jegor Gaidar, Boris Nemzow oder Alfred Koch anrufen. Diese Politiker des neuen Russlands der Neunzigerjahre kritisierte sie permanent für deren Kompromisse, aber sie hörten ihr auch immer sehr aufmerksam zu. Alle verstanden, dass Nowodworskaja möglicherweise der letzte russische politische Idealist war, denn sie wurde ausschließlich von Selbstlosigkeit, Selbstaufopferung und Liebe zu ihrem Land angetrieben. Ihr einziger wirklich richtiger Freund war der Staatsduma-Abgeordnete Konstantin Borowoj, ein radikaler Demokrat und Gründer der ersten russischen Börse und der Partei Ökonomische Freiheit. Gemeinsam mit ihm führte sie ein Videoblog, organisierte diverse Aktionen und trat bei den Parlamentswahlen an, wenngleich auch ohne großen Erfolg.

 

Literatur als Selbstverwirklichung

Bereits in den Achtzigerjahren war das literarische Talent Nowodworskajas zu erkennen. Aufgrund ihrer radikalen Anschauungen durfte sie nicht in Fernseh- oder Radiosendungen auftreten, und sogar der oppositionelle Radiokanal Echo Moskaus, bei dem sie lange Zeit regelmäßig auftrat, war gezwungen, eine Weile auf ihre Mitarbeit zu verzichten, da sie bei einer Live-Sendung den tschetschenischen Terroristenführer Schamil Bassajew unterstützt hatte.

Nichtsdestoweniger gelang es Nowodworskaja, sich als Essayistin und Schriftstellerin zu verwirklichen. Sie schrieb über Literatur, Geschichte und Politik in den Zeitschriften „Ogonjok" („In den Neunzigerjahren"), „Nowoje wremja" und „Medwed". Ihr Buch „Dichter und Zaren" erzielte eine hohe

Auflage. Ihre Artikel über Brodskij, Zwetajewa und andere russische Schriftsteller zählen zu den meistgelesenen Online-Beiträgen Russlands.

Nowodworskaja wird den Nachkommen als Aufklärerin in Erinnerung bleiben. Sie schrieb brillante und scharfsinnige Biografien über große Russen, wodurch deren Taten und Leistungen für viele zeitgenössische Leser in Russland wie auch im Ausland zugänglich wurden. Sie hielt Vorlesungen, und ihre rhetorisch prägnante Sprache war immer angereichert mit historischen und literarischen Querverweisen.

Und doch war sie in jedem ihrer Essays in erster Linie ein antisowjetischer Mensch und eine kritische Denkerin, deren Ansichten sogar für einen Menschen mit demokratischen Anschauungen nicht immer akzeptabel waren, ganz zu schweigen von ihren Gegnern. Und dennoch wurde sie von Freund wie Feind geachtet. Wahrscheinlich gerade dafür.

 

Boris Minajew ist der Chefredakteur der Zeitschrift „Medwed", für die Walerija Nowodworskaja regelmäßig schrieb.

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