Was macht den IS so gefährlich?

Bild: Konstantin Maler

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Eine kurzsichtige und rücksichtslose Nahost-Politik der USA habe der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Irak erst den Nährboden bereitet, glaubt der ehemalige russische Außenminister und Nahost-Experte Jewgenij Primakow. Die Welt müsse nun der größten Bedrohung der Gegenwart gemeinsam entschlossen gegenüberstehen.

Der Islamische Staat (IS), der ursprünglich unter dem Namen „Islamischer Staat im Irak und Groß-Syrien" bekannt war, und dessen Expansionsstreben stellen meines Erachtens heute eine große Bedrohung für die Welt dar.

Der IS repräsentiert eine Allianz aus verschiedenen Tendenzen, die jede für sich genommen kaum eine besondere Gefahr darstellen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass radikale Sunniten aus dem sunnitischen Dreieck im Irak den IS gegründet haben. Ihnen schlossen sich baathistische Offiziere an, die nach der Besetzung des Iraks durch US-amerikanische Soldaten zahlreiche Untergrundorganisationen schufen. Diese stärkten die Schlagkraft des Islamischen Staates, auch wenn die Verbindungen zu ehemaligen Baathisten, deren Weltanschauung sich nicht voll und ganz mit der Ideologie des IS deckt, nicht länger bestanden.

Die Truppen des IS, die aus extrem hetzerischen Terroristen bestehen und die unter dem Deckmantel der Religiosität agieren, breiteten sich in Syrien aus und nahmen bald darauf die Führungsrolle in der Opposition gegen die alevitische Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ein. In Syrien begann der IS, neue Anhänger anzuwerben. Als der Aufbau der Organisation dort beendet war, ging der IS auf einen für viele gänzlich unerwarteten Angriff auf den Irak über und brachte so innerhalb weniger Tag ein Drittel des Landes unter seine Kontrolle.

 

Die USA haben im Irak zu kurzsichtig gehandelt

Die Expansion und das zügige Voranschreiten des IS ist in vielerlei Hinsicht ein Ergebnis der Vorgehensweise der USA im Irak. Der Einmarsch der USA in den Irak stürzte das Land in ein tiefes Chaos und führte zu einem Ungleichgewicht. Dieses war der Anlass für blutige Konflikte zwischen Vertretern der beiden größten Strömungen im Islam – den Schiiten und den Sunniten. Auseinandersetzungen, auch massive, zwischen diesen beiden Gruppen hatte es auch zuvor gegeben, allerdings waren diese niemals religiös motiviert. Die klare Unterstützung der Schiiten vonseiten der USA bei der Verdrängung der Sunniten aus der Regierung verlieh dem Konflikt Brutalität. Und dieses Vorgehen bewirkte auch die Fokusverschiebung auf den religiösen Hintergrund, was nur schwer von den Verfechtern der US-amerikanischen Politik dementiert werden kann.

Auch jene Tatsache kann nicht geleugnet werden, dass die, milde ausgedrückt, kurzsichtige Politik der USA die Bewaffnung eben jener radikalen Terroristen erst ermöglicht hat, die nun ihre Waffen auch gegen die USA richten. Angesichts der Vorgehensweise der USA scheint es nicht verwunderlich, dass die US-amerikanischen Besatzungsmächte die Bewaffnung der sunnitischen Verteidigungstruppen vorangetrieben und mit deren Hilfe versucht haben, al-Qaida aus dem sunnitischen Dreieck zu vertreiben. Doch man hat die Anhänger der sunnitischen Verteidigungstruppen einfach betrogen – hatte man ihnen doch eine Reihe an Posten in der irakischen Armee versprochen.

Noch schlimmere Folgen zog jedoch Washingtons Intervention in Syrien nach sich. Dort unterstützte die US-Regierung jene Kräfte, die für den Sturz des syrischen Präsidenten Assad kämpften. Das Argument, dass die USA nicht den IS, sondern eine viel gemäßigtere Gruppierung, die Freie Syrische

Armee, mit Waffen beliefert habe, ist haltlos. Denn bei einer umfassenden Unterstützung der oppositionellen Kräfte in Syrien konnten und wollten die USA keine Grenze zwischen dem IS und anderen Gruppierungen ziehen. So funktioniert nämlich die US-amerikanische Logik: Es werden die eigenen Interessen durchgesetzt, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Weitsicht.

Ich möchte auf einen weiteren wichtigen Punkt hinweisen: Die Destabilisierung der Lage im Irak führte dazu, dass nach dem Sturz von Saddam Hussein die „Baath"-Parteimitglieder aus der irakischen Regierung entfernt wurden. Die Lücken füllten die Dschihadisten. Zu diesem Zeitpunkt waren sowohl die irakische Armee als auch die Spezialeinheiten nicht einsatzfähig. Das nutzten die Dschihadisten aus und nahmen das militärische Gerät an sich. Schützenpanzerwagen, Panzer, Artilleriegeschütze und noch mehr Waffen, die einst von den USA und ihren Verbündeten bereitgestellt wurden, befinden sich nun in ihren Händen.

 

Der Kampf gegen den IS hat oberste Priorität

Worin besteht nun genau die große Gefahr, die von der Terrormiliz Islamischer Staat ausgeht?

Erstens: Der IS, der sich selbst als siegreiche Macht bezeichnet, ist zu einem Magneten geworden, der eine ganze Reihe an extremen islamischen Organisationen anzieht. Dadurch verwandelt sich diese Gruppierung in ein globales Zentrum für radikale Islamisten.

Zweitens: Die Zahl der Mitglieder steigt rasant an. Dies ist zum Teil dadurch bedingt, dass islamistische Dschihadisten sich aus Ländern im Nahen Osten, Nordafrika, Europa, Amerika und Australien dem IS anschließen. Zusätzlich treten dem IS und anderen radikalen Gruppierungen auch viele Krieger aus der „Freien Syrischen Armee" und der „Dschabhat al-Nusra", die

mit der al-Qaida in Verbindung steht, bei. Laut Angaben der CIA hat sich die Zahl der Mitglieder, seit der IS seine Existenz verkündet und Mossul, die zweitgrößte Stadt im Irak, sowie andere Gebiete unter seine Kontrolle gebracht hat, verdreifacht. Insgesamt zählt der IS nunmehr über 30 000 Anhänger.

Drittens: Der Islamische Staat konnte sich durch seine Kontrolle des Gebiets um Mossul, wo Erdöl gefördert und verarbeitet wird, finanzielle Unabhängigkeit sichern. Das dort geförderte Erdöl wird Hintermännern aus der Türkei, Jordanien, Syrien und anderen Ländern, die sich nicht von den Drohungen Washingtons abschrecken lassen, weiterverkauft.

Viertens: Die ideologische Idee des IS, ein Kalifat in allen Ländern mit muslimischer Bevölkerung zu errichten, findet überaus viele Anhänger. Doch einige arabische Länder haben sich bereits jenen Staaten angeschlossen, die gegen den Islamischen Staat ankämpfen wollen. Dies zeugt davon, dass in der arabischen Welt keine Einigkeit herrscht.

Die USA begannen ihren Kampf gegen den IS, indem sie Luftangriffe auf IS-Stellungen im Irak flogen und diese in einem weiteren Schritt ohne das

Einverständnis der Regierung in Damaskus auf Syrien ausweiteten. Dieses Vorgehen verstößt dabei nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern löst auch die Besorgnis aus, dass durch eine Umgehung des UN-Sicherheitsrates quasi ein Sturz des Assad-Regimes eingeleitet werden könnte.

Angesichts der äußerst ernsten Lage bedarf es einer Koalition im Kampf gegen den IS, an der sich in erster Linie die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats beteiligen müssen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten, auch hinsichtlich der Ukraine-Krise, dürfen dabei den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf keinen Fall behindern.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Rossijskaja Gaseta.

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