Russland und Europa gehen getrennte Wege

Bild: Tatjana Perelygina

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Die aktuellen politischen Konflikte zwischen Russland und der Europäischen Union sind Symptome einer langfristigen Entwicklung. Die Russische Föderation ist mit der vorgesehenen Rolle in der Weltgemeinschaft nicht zufrieden – und orientiert sich Richtung Osten. Die Beziehungen zum Westen bedürfen einer grundlegenden Reform.

„Seiner Zeit sagte Dostojewski, dass Verwirrung und Heimlichtuerei viel Unglück in die Welt brachten. Ausgehend davon, dass wir manchmal nicht das sagen, was wir gern gesagt hätten, haben wir dieses Treffen im Geiste der Ehrlichkeit und der Offenheit durchgeführt."

Dieses Zitat stammt von José Manuel Barroso, dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, gesprochen auf einer Pressekonferenz anlässlich des Gipfeltreffens zwischen Russland und der Europäischen Union Ende Januar 2014. Es sollte sich als das letzte Treffen dieser Art erweisen. Die für Mai in Sotschi geplante Zusammenkunft fand nicht mehr statt. Und angesichts der heutigen Beziehungen ist es kaum vorstellbar, dass Gespräche in ähnlichem Format wieder aufleben werden.

Der Grund dafür ist nicht persönliche Antipathie. Es geht dabei auch nicht um die politische Sackgasse in der Ukraine-Krise. Beziehungen nach dem Modell der „strategischen Partnerschaft" sind schlicht und ergreifend nicht mehr realisierbar. Das Modell baute darauf auf, dass das postsowjetische Russland im Grunde nicht anders konnte, als sich dem Westen und vor allem der Europäischen Union wirtschaftlich, politisch und auch institutionell anzunähern. Daher wurden alle Hindernisse auf dem Weg dorthin als vorübergehende Probleme betrachtet. Man musste sie nicht wirklich lösen. Abwarten genügte. Russland würde sich allmählich verändern und die Nische einnehmen, die diesem Land im Gesamtgefüge der Welt zugesprochen war. Es war die Rolle eines zweifelsfrei wichtigen, aber nicht entscheidenden Faktors, nur soweit unabhängig, wie es der Anteil an der Weltwirtschaft zulässt: im bescheidenen Maße also.

Ganz am Anfang bestand auch zwischen Russland und der Europäischen Union darüber ein Konsens. Allerdings nicht lange. Je weiter die postrevolutionäre Euphorie der 1990er-Jahre abebbte, desto klarer wurde der russischen Seite, dass man sich selbst schon ziemlich verrenken müsste, um in die zugewiesene Form zu passen.

Es wäre unfair zu behaupten, Russland hätte es nicht versucht. Ausgerechnet in der Anfangszeit der Präsidentschaft Putins wurden sehr bewusste Schritte in diese Richtung unternommen. Lange Zeit suchte der zweite Präsident Russlands nach einer Möglichkeit, die Gegebenheiten des Landes mit dem Format zu versöhnen, das für das Hineinwachsen in die westliche Gemeinschaft erforderlich war. Klar, dass dies nicht ohne Irrtümer und Fehleinschätzungen bestimmter Umstände einhergehen konnte. Aber es gab den Versuch. Hätte der Westen sich flexibler und kreativer gezeigt, Russland würde heute womöglich in Assoziationsverhandlungen mit der EU stehen. Freilich auf gleichberechtigter Basis, anders als Kiew oder Kischinau heute, aber mit stabilen institutionellen Beziehungen.

 

Im Osten liegt die Zukunft

Und nochmal: Damals, und eigentlich noch bis vor kurzem, galt die Vorstellung, dass Russland keine alternative Zukunft habe, außer Teil eines großen, nicht kulturhistorischen, sondern eben politischen Europas zu werden. Diese Vorstellung war nicht zu hinterfragen und musste als wahr akzeptiert werden. Heute dominiert eine nahezu gegenläufige Tendenz. Zwar wäre es übertrieben, die neue politische Identität Russlands als einen Gegenpol zu Europa anzusehen. Diese Analogie trifft viel besser auf das russisch-amerikanische Verhältnis zu. Allerdings steht fest, dass das Ziel langfristiger Beziehungen zur Europäischen Union seine Dringlichkeit verloren hat.

Russland ist ein schwer bewegliches Schiff und nimmt nur langsam einen neuen Kurs ein. Daher ist auch eine Umkehr nicht leicht zu vollziehen. Was im Moment passiert, ist eine Kursänderung Richtung Osten; nicht nur nach

China, sondern nach Eurasien insgesamt. Dieser Prozess wird eine Weile dauern und es ist unmöglich, alle Wendungen auf dem Weg vorherzusehen. Aber es ist wichtig, zu erkennen, dass es sich diesmal nicht um eine politische Stimmungslage, sondern um eine Grundsatzentscheidung handelt. Die Ereignisse in der Ukraine haben diese Entwicklung beschleunigt.

So wie sich die Situation in der Ukraine entwickelt, wird das kommende Jahr kaum eine Besserung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bringen. Vieles hängt davon ab, wie der krisengeschüttelte Nachbarstaat Russlands den Winter überdauert, ob seine sozialpolitische Stabilität und territoriale Integrität erhalten bleiben. Das betrifft die Kerngebiete wie die Donbass-Region, die Kiew gegenwärtig nicht zu kontrollieren vermag. Die aktuelle Lage wird eher neue Anlässe zu Konflikten als Annäherungsimpulse zwischen Russland und dem Westen bringen.

 

Fruchtbare Beziehungen verlangen Einsatz und Wille

Und doch sitzt die Wurzel des Problems noch tiefer. Angesichts veränderter Wirklichkeiten ist ein neues Beziehungsmodell zwingend erforderlich. Russland orientiert sich politisch Richtung Osten. Das neue transatlantische Konglomerat aus der EU und den USA versucht im neuen Kontext das alte Modell des politisch geeinten Westens zu reproduzieren. Beide Projekte sind

im Stadium der Umsetzung ohne ganz klare Perspektiven. Um vor diesem Hintergrund Formen langfristiger Zusammenarbeit zu entwickeln, sind eine große Portion guten Willens und nicht zu unterschätzende kognitive Leistungen erforderlich. Weder zum einen, noch zum anderen sind beide Seiten in der aktuellen Situation bereit.

Von Fjodor Dostojewski, der vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Barroso vor einem Jahr zitiert wurde, stammen noch andere berühmte Worte: „Wir Russen haben zwei Abstammungen – unsere Rus und das Europa." Der Dichter hat die Zugehörigkeit Russlands zu Europa ebenso entschieden verteidigt, wie auch die schädliche Auswirkung blinden Nachahmens europäischer Sitten auf russischem Boden. Die gespaltene Selbstwahrnehmung ist das Ergebnis der historischen Entwicklung russischer Staatlichkeit. In der europäischen Wiege geboren, hat der russische Staat seinen eigenen Charakter entwickelt, indem er gen Osten, nach Asien strebte. Insofern ist das gewisse Unausgesprochene ein fester Bestandteil Russlands, denn strenge Definitionen oder gar einen klar ausformulierten Verhaltenskodex wie einen gemeinschaftlichen Besitzstand verträgt es einfach nicht.

Der Autor ist Präsidiumsvorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik.

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