„Charlie Hebdo“: Wie weit darf Meinungsfreiheit gehen?

Bild: Alexej Jorsch

Bild: Alexej Jorsch

Die „Charlie Hebdo“-Tragödie zeugt vom gegenseitigen Unverständnis zweier unterschiedlicher Traditionen im Umgang mit Religion und unterschiedlichen Auffassungen von Humor, glaubt der Geschichtswissenschaftler, Kunsthistoriker und Architekturkritiker Grigorij Rewsin.

Mir scheint, wir behandeln die Tragödie von Paris vollkommen falsch als Angriff von Islamisten auf das heilige europäischen Prinzip der Freiheit des Wortes. Mir scheint es falsch, die Zeitschrift „Charlie Hebdo" als Inbegriff dieser Freiheit anzusehen. Wenn wir dies täten, würden wir eingestehen, dass die Freiheit des Wortes lediglich dazu dient, unsinnige Frivolitäten zu produzieren.

Wenn Sie die Karikaturen dieser Publikation kennen, verstehen Sie, was ich meine – ihre künstlerische Intention, die Tiefe ihrer Gedanken und Sprache entspricht den Zeichnungen in einer öffentlichen Toilette, nur dass ihre Themenbreite deutlich größer ist. Das Prinzip der Freiheit des Wortes dient nicht ausschließlich dazu, unflätige Geschichten über Gott und die Kirche, den Staat und die Familie, große und kleine Leute zu erzählen.

Die Pressefreiheit wurde durch aufklärerische Erörterungen und Konstitutionen zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingeführt und beschränkte sich auf eben diese. Sie ist also bereits eine recht alte Institution. Es mag unverständlich erscheinen, warum eine Zeitschrift wie „Charlie Hebdo" in einem modernen, zivilisierten Land existieren kann. Es sei denn, man weiß, dass es sich bei diesem Land um Frankreich handelt. Es ist das Land Villons und Rabelais; das Land gotischer Skulpturen mit der degoutanten, burlesken Garstigkeit der Hölle; das Land frivoler Marginalien auf den Seitenrändern kirchlicher Manuskripte. Die Karikatur ist aus der mittelalterlichen Humorkultur entstanden, und Karikaturisten sind mitnichten Rhetoriker oder Philosophen. Es sind Narren, geniale Zotenreißer und Lästermäuler, die der Karnevalstradition entstammen.

Natürlich wurde die französische Karikatur dank ihrer Rolle, die sie während der französischen Revolution spielte, zum allgemeinen Bestandteil der europäischen Freiheit. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie mit dieser gleichzusetzen wäre. Sie ist eine Erscheinung, die viel älter als die Freiheit ist – eine Befreiung von den Fesseln der Zivilisation und den animalischen Wurzeln in uns selbst.

 

Mittelalterliche Barbarei gegen moderne europäische Freiheit?

Wenn man so will, war es wohl ein historischer Zufall in der europäischen katholischen Tradition, dass unter anderen auch die Kleriker zu den Zielen der Humorkultur zählten. Das ist eine recht einzigartige Erscheinung, aus der viele wichtige Folgen erwuchsen, und möglicherweise hat dieser Radikalismus der europäischen Freiheiten mit eben diesem Umstand zu tun. Aber das ist ein anderes Thema.

In der islamischen Kultur ist der Humor des Volkes jedoch nicht weniger entwickelt als in Europa – es sei nur an das türkische Puppentheater, das übrigens ausgesprochen zotig ist, oder Nasreddin Hodscha erinnert. Aber soweit mir bekannt ist, was nicht ausschließt, dass ich mich irre, beschränkt sich die Tradition des volkstümlichen Verspottens hier auf die Sultane, Wesire, Kaufleute und Mullahs, nicht aber auf den Propheten und die rechtgeleiteten Kalifen oder die Gesetze der Scharia. Eine solche Tradition, die diese zu Zielen des Spottes machte, gab es nicht – fragen Sie mich nicht, warum.

Die abstoßende Ermordung der Karikaturisten durch zwei islamistische Fanatiker wird als Konfrontation zwischen der mittelalterlichen Barbarei und

der modernen europäischen Freiheit gewertet. Ich stimme zu, dass die Morde grauenhaft waren. Auch ich war gestern an der französischen Botschaft und legte dort Blumen nieder. Ich stimme zu, dass die europäische Freiheit ermordet wurde, allerdings nicht die moderne. Wenn man dies alles mit den Augen eines abseits stehenden Kulturwissenschaftlers betrachtet, sieht es aus wie das Aufeinanderprallen des einen Mittelalters auf ein anderes. Es ist das Drama des Nichtverstehens zweier alter Traditionen, die das Kernstück des national-religiösen, nicht aber des modernen Bewusstseins bilden. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass in der einen Tradition der nackte Hintern dem Herrn entgegen gestreckt werden kann und sogar muss, da er dich dem Tode preisgegeben hat, in der anderen dies hingegen absolut verboten ist, da man seinen entblößten Körper nicht demjenigen zeigen darf, der dir die Seele verliehen hat. Mit dem Tod ist nicht zu spaßen – die verschiedenen Kulturen haben diesbezüglich vollkommen unterschiedliche Strategien ausgearbeitet und sind bestrebt, sich nach diesen zu richten.

Und von diesem Standpunkt aus betrachtet – Sie mögen mir das verzeihen – gibt es hier keine Bösewichte. Es ist eine Art shakespearesches Drama zweier Grundsätze. Alle Beteiligten riskieren den Tod, um für ihr Recht einzustehen, sie selbst sein zu dürfen. Glauben Sie denn, die beiden Amokläufer haben nicht ganz genau gewusst, was sie nach dieser Tat erwarten würde? Sie hinterließen, offensichtlich ganz bewusst, in ihrem Auto eine Art Visitenkarte. Das erinnert an russische Terroristen der Zarenzeit, die am Ort ihrer Tat zurückblieben, um die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. In ihrem barbarischen – ja, tatsächlich barbarischen – Konzept existiert die Vorstellung, dass es besser sei zu sterben, als eine Beleidigung Gottes zu erdulden. Das kennt man aus dem Mittelalter.

Und wir alle können uns vorstellen, dass den ermordeten Karikaturisten die Gefahr, in der sie sich befanden, sehr wohl bekannt war. Aber da standen

sie und konnten nicht anders. Und unterm Strich gehen alle dabei drauf. Aber dies ist kein Theater, und die Realität lässt sich nicht in ein solches Schema übertragen.

Mir scheint, dass wir die Situation verschärfen, wenn wir diese Geschichte auf das heilige Prinzip der Freiheit des Wortes zurückführen. Wir lassen diesen Krieg dadurch unabwendbar werden. Denn es existiert ein Unterschied zwischen einem Leviathan und einem Narr. Es ist eine Sache, gegen den Staat, gegen dessen Grundlagen, gegen seine Institutionen und die Verfassung zu kämpfen. Wenn sich zeigt, dass es nur darum geht, Allah zu beleidigen, dann ist das bitterernst und mancher ist bereit, dafür sein Leben zu opfern. Etwas vollkommen anderes ist jedoch, wenn du dein Leben opferst, um den Narren zu töten. Das ist einfach nur dumm. Ein Krieger kämpft nicht gegen einen Narren, weil dies kein ehrenvoller Sieg wäre. Es ist einfach nur lächerlich, mit der Waffe in der Hand gegen einen nackten Hintern vorzugehen – was immer du auch tust, du landest doch nur in der Scheiße.

Diese Kolumne Grigorij Reswins wurde auf seiner Facebook-Seite in Russisch veröffentlicht. Sie wird hier gekürzt mit Genehmigung des Autors veröffentlicht.

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