Warum sich Russland und der Westen immer schlechter verstehen

Bild: Alexej Jorsch

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Die heutige Vorstellung des Westens von Russland ist veraltet und bedarf einer Korrektur, ist sich der russisch-amerikanische Politikwissenschaftler Nikolai Zlobin sicher. Dazu müsste Russland seine langfristigen Interessen genauer definieren und weniger auf Propaganda setzen.

Während meiner Zeit in den USA habe ich gelernt, dass es einen großen Unterschied gibt, zwischen dem amerikanischen Denken über Russland und wie sich die Russen das amerikanische Denken über Russland ausmalen. So handelt es sich zum Beispiel nur um ein großes russisches Vorurteil, dass die Amerikaner glauben, Bären gehörten ins russische Straßenbild. In Wirklichkeit begegnen die Amerikaner Russland weitaus offener und mit großem Respekt. Zugegebenermaßen, die Metapher des Taiga-Bären, die Wladimir Putin in seinen Reden über Russland in letzter Zeit manchmal bemüht, lässt Russland in der Fremdwahrnehmung nicht wirklich sympathischer erscheinen.

Die westliche Schule der politischen Russistik teilt sich in zwei Lager auf. Das erste geht davon aus, dass Waldimir Putin aus Russland ein autoritäres Land mit einer schwachen Zivilgesellschaft machen will. Die Anhänger dieser Richtung, darunter auch die aktuelle US-Regierung, nehmen an, dass Putin die politische Struktur des heutigen Russlands entworfen hat. Ohne Putin wäre das gegenwärtige Russland einfach nicht überlebensfähig, ganz so wie es bei vielen seiner Vorgänger der Fall war – angefangen bei Iwan dem Schrecklichen bis hin zu Boris Jelzin. Deren Russland-Entwürfe endeten mit ihrem Abdanken. Ihre Nachfolger mussten ihren eigenen Weg gehen.

 

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Das zweite Lager versteht Putin geschichtlich betrachtet als einen typischen russischen Staatschef. Sein Ziel besteht nicht in der Verwirklichung eines genauen Programms, über das er gar nicht verfügt, sondern darin, den machtpolitischen Status quo und die jahrhundertalte Entwicklungsstrategie Russlands aufrecht zu erhalten. Ganz nach dem Motto: Es gibt kein „Russland Putins", es gibt nur einen „russischen Putin". Letzterer entspringt der nationalen politischen Kultur, ihren Institutionen und Traditionen. In den ersten zehn Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion war dies die grundlegende Auffassung, die der US-amerikanischen Politik im Umgang mit Russland zugrunde lag.

 

Diskrepanz zwischen westlichen Vorstellungen und russischer Realität

Die beiden Lager argumentiert keineswegs gradlinig. Ich vereinfache hier mit Absicht. Der Westen wird oft und nicht ganz unberechtigterweise beschuldigt, sich nicht mit dem „wirklichen Russland", sondern lieber mit einem „virtuellen Russland" zu beschäftigen, das in den Washingtoner

Denkfabriken entworfen wurde. Darüber lässt sich streiten. Zweifelsohne aber braucht es heute einen neuen, frischeren Blick auf Russland.

Um für den Westen verständlich zu sein, muss Russland zuerst selbst Antworten auf die wichtigsten Fragen finden. Vor allem geht es darum, die eigenen langfristigen nationalen Prioritäten zu definieren. Angesichts der Tatsache, dass der Anschluss der Krim als ein Eckstein russischer Staatlichkeit dargestellt wird, ohne dass jemals zuvor weder der russische Präsident noch das russische Militär oder Diplomaten und Experten dies ansatzweise auf die Agenda gesetzt hätten, kann man nachvollziehen, dass die Welt darauf mit wenig Verständnis reagiert.

Es ist ebenso naiv zu glauben, dass ein Land, dessen letztes Jahrhundert von vielen Brüchen gekennzeichnet ist, von der Weltgemeinschaft plötzlich als ein Garant traditioneller Werte angesehen wird. Es braucht eine Weile bis man sich internationales Ansehen erworben hat. Grundlage hierfür müssen konkrete Anhaltspunkte bilden und nicht der Glaube an die eigene Propaganda. Es ist auch falsch, den internationalen Wettbewerb mit Feindseligkeit und Konfrontation gleichzusetzen, wie dies in Russland oft geschieht. Natürlich möchte Russland ein ernstzunehmender Konkurrent zu den USA und Europa sein. Washington versteht und akzeptiert das. Nicht weniger natürlich ist allerdings, dass auch der Westen in Russland einen Konkurrenten sieht und entsprechend handelt.

Die Zeit ist offensichtlich reif, die langfristige Sicht auf Russland grundlegend zu überdenken. Ein Neuanfang wird jedoch durch Sanktionen

erschwert, die den westlichen Vertretern den Zugang zu Russland verbieten. Es ist schlicht und einfach nicht weitsichtig, Russland an den Rand des Weltgeschehens zu drängen, bloß weil man mit bestimmten Aspekten seiner Außenpolitik nicht einverstanden ist.

Die grundlegende Korrektur der westlichen Sicht ist ohne die radikale Korrektur der langfristigen Sicht Russlands auf den Westen absolut unmöglich. Die aktuelle politische Zwietracht hat in Russland zu einer sinnlosen Verunglimpfung westlicher Zivilisation und ihrer Werte geführt. Russland selbst muss verstehen, welche Antwort es auf die Frage nach „Russlands Putins" oder dem „russischen Putin" hat. Wie lange ist das größte Land der Welt noch bereit, sich für einen Bären zu halten?

Dr. Nikolai Zlobin ist ein russisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Präsident des Center on Global Interests in Washington, D.C., USA.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RBC.Daily.

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