Viele Russen sind immer noch am Stalin-Mythos festhalten. Foto: Michail Mordassow/ Focuspictures
Die heutigen Massenkundgebungen sind kaum vergleichbar mit dem Wahnsinn, der in der Sowjetunion bei der Beerdigung Stalins herrschte. Den Stalin-Kult brauchten damals vor allem diejenigen, die sowohl das Volk als auch Stalin selbst lenken wollten. Aber das Volk sah in Stalin einen Retter, der das Unglück der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergessen macht.
Für junge Russen sind sowohl dieses Unglück als auch der Personenkult um Stalin eher ein Mythos. Das Land hat wieder einen starken Führer, aber seine hohen Umfragewerte sind kein Kult. Unter seiner Führung wurden auch einige Siege gefeiert, aber mit dem im Großen Vaterländischen Krieg sind sie nicht zu vergleichen. Unter seiner Führung haben die Russen den Glauben zurückgewonnen, Amerika und der Welt Paroli bieten zu können. Die Repressalien waren das dunkelste Kapitel in der Stalin-Ära. Russlands aktueller Herrscher braucht das Gedenken an die Millionen Gulag-Toten, um seine Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen. Dennoch lässt er keinen Zweifel daran, notfalls die Daumenschrauben auch anziehen zu können.
Der Stalin-Mythos ist für den Kreml heute ungefähr das Gleiche, was für Stalin der Mythos über Iwan den Schrecklichen war. Dem Volk wird gesagt: Der alte Herrscher war ein Despot, aber er war auch ein großer Führer.
Auffällig sind die Ergebnisse einer Studie des Forschungsinstituts Lewada-Zentrum. Die Bürger Russlands wurden gefragt, womit sie Stalins Tod verbinden. 55 Prozent sprachen von „der Beendigung des Terrors und der Repressalien" und „der Befreiung von Millionen unschuldigen Menschen". Nur für 18 Prozent war sein Tod „der Verlust des großen Führers und Lehrers". 40 Prozent bewerteten jedoch Stalins Rolle in der Geschichte Russlands „eher positiv", nur 22 Prozent – „eher negativ" (neun beziehungsweise zehn Prozent antworteten, sie sei „definitiv positiv" oder „definitiv negativ" gewesen). Das lässt vermuten, dass die Russen immer noch am Stalin-Mythos festhalten.
Dabei begrüßen nur 23 Prozent der Befragten die Idee zur Rückbenennung Wolgograds in Stalingrad, während 55 Prozent dagegen sind. Das bezieht sich sogar auf 46 Prozent jener Russen, die bei der Präsidentschaftswahl 2012 für den Kommunisten Gennadi Sjuganow gestimmt hatten. Unter den Wählern Wladimir Putins sprachen sich 59 Prozent für die Beibehaltung des aktuellen Namens der Stadt an der Wolga aus.
In Russland gehen die Betrachtungen über die Vergangenheit und Gegenwart offenbar immer noch weit auseinander.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.
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