Live vom Taksim-Platz: Mittendrin in der Revolution

Anfang Juni kam es auf dem Taksim-Platz in Istanbul zu Massenprotesten gegen die Politik von Premierminister Erdogan. Russland HEUTE veröffentlicht den Augenzeugenbericht des Journalisten Alexej Schitschkow, der sich in die Demonstrationen hinein begab.

Foto: Alexej Schitschkow

Ich habe die Ereignisse in der Türkei von Anfang an verfolgt. Ich las Reportagen, trat allen Facebook-Gruppen bei, die mit dem Gezi-Park und dem Taksim-Platz in Verbindung standen. Ich stellte fest, dass es dort eine sehr starke, gewerkschaftsnahe und linke Bewegung gibt. Die Leute kämpfen auf der Straße für Ideale, denen ich mich nahe fühle. Bei uns stehen die Liberalen für alles Gute und gegen alles Schlechte. In der Türkei traf ich auf sehr konkrete Forderungen. Und natürlich fielen mir die internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg ein. Der Internationalismus, der Wunsch, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren, ist eine sehr starke Motivation. In Istanbul lernte ich Deutsche kennen, die von sich sagten: Wir mussten einfach hierhin kommen.

Ich war bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein einziges Mal in der Türkei gewesen, aber alles lief ziemlich glatt. Ich kam an sehr günstige Flugtickets, schnappte mir meine Kamera und meinen Schlafsack und machte mich auf den Weg. Ich übernachtete im Freien; einmal gewährten uns die Inhaber eines Cafés während eines Tränengasangriffs Unterschlupf. Am ersten Tag meldete ich mich einfach in einem Camp an. Ich kam an und frage: Habt Ihr einen Schlafplatz für mich? Und sie sagten sofort: Ja klar, und brachten mir ein Kopfkissen und eine Matte. Als die Leute erfuhren, dass ich aus Russland bin, freuten sie sich. Nur einer sagte: „Was suchst du hier, fahr nach Hause". Ich erklärte ihm, dass das mein Urlaub ist. Die Leute verbringen ihren Urlaub auf unterschiedliche Weise, und ich eben so.

Das war aber die einzige Begegnung dieser Art. Allen war klar, dass die Medien vor Ort über das Geschehen schweigen würden und ein Blogger aus Russland gut ist. So kann man die Informationsblockade durchbrechen. Es waren auch russische Journalisten vor Ort, aber nicht sehr viele, von der Nowaja Gaseta und vom Kommersant. Einmal sah ich auf der Straße an einer Wand die Worte „Freiheit für Taksim" auf Russisch. Wer sie dorthin geschrieben hat, weiß ich nicht.

Beim Fotografieren musste ich wirklich aufpassen. Bei uns lässt man sich gerne vor dem Hintergrund einer Barrikade oder einer Gruppe von OMON-Einsatzkräften ablichten. Später sitzt man wegen dieser Fotos im Gefängnis, sie dienen sozusagen als Beweismaterial. Die Türken sagen klar: keine Fotos. Sie verdecken ihre Gesichter mit einem Tuch.

Ich war dort sechs Tage. In dieser Zeit sah ich Vieles. Ich fotografierte, wie Anarchisten eine Bank, große Schaufensterscheiben und einen Bankautomaten zerschlugen. Ich sah, wie Leute Pflastersteine aus dem Boden lösten und ihnen jemand zurief: „Hey Jungs, da kommen Bullen, fünfhundert Meter!"

Auf dem Taksim-Platz versammelten sich an die 200 000 Menschen. Und da hatten sie noch nicht die Demonstranten aus dem asiatischen Teil der Stadt durchgelassen. Als diese über die Brücke gingen, warf man aus

Hubschraubern Gasgranaten auf sie hinab. Es kamen die unterschiedlichsten Leute zusammen: Islamisten, Antifa, Marxisten, die mehrere Sprachen beherrschten, etwa Türkisch, Englisch und Deutsch. Auch waren die Eigentümer kleiner Geschäfte oder Betriebe, Intellektuelle, Studenten und Angehörige von Bevölkerungsgruppen vor Ort, die sich in ihren Rechten eingeschränkt fühlten. Ich traf 19-jährige Fanatiker, die mich fotografierten und anarchistische Losungen skandierten. Sie sagten: „Toll, dass du hier bist, das ist Solidarität, gut so". Niemand klaute, es gab keine Betrunkenen. Dafür eine erstaunlich gute Organisation. Die Leute sagten: Heute übernachte ich im Camp, morgen meine Frau, übermorgen mein Vater. Sie trennten sich, brachten etwas zu Essen und Geld zum Platz.

Einmal machten wir uns auf in Richtung einer Polizeiwache. Und genau in diesem Moment begann die Polizei ihren Standort zu wechseln. Ich stelle meine Kamera ein und fing an, auf Kniehöhe zu filmen. Man konnte sie eigentlich nicht sehen. Ich schaute in die Kamera und sah, wie ein Typ mit Füßen niedergetreten wurde. In diesem Moment kamen sie auf uns zu. Wir sagten, wir sind russische Journalisten, aber sie befahlen uns, die Aufzeichnungen zu löschen. Ich versuchte, mich blöd zu stellen und so zu tun, als wüsste ich nicht, wie das funktioniert. Schließlich haben sie den Film natürlich gelöscht. Sie sagten nur noch: „Macht, dass ihr hier wegkommt."

Wirklich schrecklich waren die Granaten. Es waren drei große Ladungen Gas. Ich schluckte heftig, weil ich neben der Tür saß. Der Besitzer des Cafés und die Kellner schafften es noch, sich in die Toilette zu flüchten. Ich wusste damals noch nicht, was Pfeffergas ist, der Pfeffer ist dort sehr scharf. Wenn man ihn einatmet, beginnt man zu husten und kann nicht mehr aufhören. Es zerreißt einem die Kehle, bis man sich übergeben muss.

In den ruhigeren Augenblicken ließen sich schicke Mädels im Alter von 19 bis 25 Jahren in Masken und Helmen fotografieren. Danach verbreiteten sie die Bilder über Instagram. Und als es dann wirklich brenzlig wurde, halfen dieselben jungen Frauen den Verletzten. Wenn du vom Gas erwischt wurdest, kamen sie und sprühten dir verdünnte Milch mit Zitrone ins Gesicht. Ganz normale Mädchen mit lackierten Fingernägeln und kurzen Röcken. Ich sah, wie die Polizei in Izmir auf junge Frauen einschlug, nur weil sie Helme trugen.

Das ist nicht meine Revolution. Ich bin nicht gekommen, um mich an den Straßenkämpfen zu beteiligen. Ich verstand sehr gut, wie ich den Kampf unterstützen konnte. Indem ich auf Twitter und Facebook schrieb und öffentlich machte, was ich sah. Interessanterweise haben meine Beiträge auch die Türken selbst gelesen, denn Informationen sind in diesen Tagen nur sehr spärlich geflossen.

Die wichtigste Losung in diesen Tagen war: „Taksim ist überall, überall ist Widerstand". In der Tat beteiligen sich mittlerweile schon 74 türkische Städte an den Protesten. Die Städte jenseits des asiatischen Teils der Türkei haben mehr Kontakt zu anderen Zivilisationen. Ihre Einwohner sind gebildeter und verstehen die Situation besser.

Jetzt ist es still geworden. Die Protestler auf dem Taksim-Platz wurden auseinandergejagt. Und gleichzeitig gehen die Proteste weiter. Man geht jedes Wochenende in den Gezi-Park, man trifft sich draußen und diskutiert, was zu tun ist. Linke Aktivisten müssen Hausdurchsuchungen erdulden und natürlich wird der nächste Schritt das Verbot der Organisationen sein. Wahlen gibt es erst 2015. Aber die Türken werden mit offeneren Augen auf die Straße gehen. Sie wissen, dass es bis zum Faschismus nicht mehr weit ist.

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