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Selbst einige Wochen nach der Absetzung Präsident Mohammed Mursis durch die Armee, hat sich die Situation im Land nicht beruhigt. Trotz extremer Hitze und des Fastenmonats Ramadan harren Tausende Anhänger des Ex-Präsidenten auf dem Platz vor der Rabaa Al-Adawiya Moschee in Kairo aus.
Auf der anderen Seite gingen am 26. Juli Millionen von Anhängern von Armeechef al-Sisi auf die Straße. Sie wollten für ihn ein Volksmandat für den Kampf gegen Gewalt und Terrorismus erwirken. Die Demonstrationen waren begleitet von nächtlichen Gewaltausbrüchen zwischen Mursi-Anhängern und Sicherheitskräften, die nach Angaben des ägyptischen Gesundheitsministeriums 80 Menschenleben und Hunderte Verletzte forderten.
Ebenfalls am 26. Juli organisierte der Russische Rat für Außen- und Verteidigungspolitik eine Diskussion zwischen Alexander Axenjonok, einem Diplomaten und früheren russischen Botschafter in Algerien, und Muhamed Salahetdinov, dem Leiter der Kultur- und Bildungsvereinigung Sobranie.
Die Diskussion unter dem Titel „Ägypten nach der Revolution. Eine neue Runde im Arabischen Frühling?” beleuchtete mögliche Zukunftsszenarien für Ägypten sowie die Beziehungen zwischen dem Militär, den Islamisten und dem politischen Islam.
Die heutige Lage in Ägypten sei vergleichbar mit der Algeriens im Januar 1992, meinte Axenjonok. Damals erkannte die Nationale Befreiungsfront (FLN) das Ergebnis der Parlamentswahlen nicht an, die die Islamische Heilsfront (FIS) im ersten Durchgang gewonnen hatte. Es kam zu einem Staatsstreich, Präsident Chadli Bendjedid wurde zum Rücktritt gezwungen. Nach dem Verbot der FIS und der Verhaftung Tausender ihrer Mitglieder entstand schnell eine islamistische Guerrilla. Algerien geriet in einen Teufelskreis von Gewalt, der fast ein Jahrzehnt andauern und über 100 000 Todesopfer fordern sollte.
„In beiden Fällen haben wir es eindeutig mit einem Militärputsch zu tun. Angesichts der Besonderheiten Ägyptens, seines Nationalcharakters, seiner Geschichte und Traditionen sowie der hier verankerten Toleranz ist wahrscheinlich nicht mit einem so weitreichenden Konflikt zu rechnen, auch wenn die jüngsten Ereignisse nicht gerade von Toleranz zeugen“, schätzte Axenjonok ein.
Das ägyptische Militär habe von Algerien gelernt. Darüber hinaus kämen ihm die Erfahrungen zugute, die es als Übergangsregierung nach Mubaraks Sturz im Februar 2011 eineinhalb Jahre lang sammelte. Aus diesem Grund hätte am 3. Juli eine zivile Regierung eingesetzt werden können, die der Vorsitzende des Obersten Verfassungsgerichtes Adli Mansur leitete.
„Es besteht eine reale Gefahr, dass radikale Gruppierungen zu den Muslimbruderschaften überlaufen und sich mit ausländischen Paramilitärs zusammenschließen könnten, um die Armee zu bekämpfen”, sagte der Diplomat. Möglicherweise habe Ägypten bereits einige militante Assad-Gegner aus Syrien angezogen.
„Die algerischen Erfahrungen sollten sowohl dem Militär als auch seinen Gegnern eine Lehre sein. Die Armee muss Gefangene freilassen, einen nationalen Dialog suchen und die verbotenen Fernsehkanäle wieder zulassen. Das Gebot der Stunde für die Muslimbruderschaften lautet, unbedingt auf terroristische Aktionen zu verzichten“, erklärte Axenjonok.
Muhamed Salahetdinov zufolge bewege die Angst vor einer Spaltung der Armee General al-Sisi dazu, seine Anhänger zu Demonstrationen für ein Volksmandat aufzurufen, das es ihm ermöglichen soll, mit militärischen Mitteln gegen Mursi-Anhänger vorzugehen.
Anders als im Falle Syriens sei es in Ägypten bisher nie zu nennenswerten Konflikten zwischen den Streitkräften und der Zivilbevölkerung gekommen. Das Militär, so Salahetdinov, wäre während der letzten Jahre nicht von Spaltungen bedroht gewesen. Die ägyptischen Streifkräfte hätten sich wiederholt als Verteidiger der Bevölkerung, nicht des politischen Regimes positioniert.
Der Experte sieht im Sturz Mursis noch nicht das Ende des politischen Islams. Die Möglichkeit einer Rückkehr der Muslimbruderschaften in ihrer gegenwärtigen Form schloss er allerdings aus. 2012 hätten sie mangels politischen oder wirtschaftlichen Programms noch keine Regierungsverantwortung übernehmen können. Nach einem Jahr an der Macht hätten sie jedoch einige Erfahrungen gesammelt. Der politische Islam reift und nimmt Gestalt an, er ist lebendig geblieben“, resümierte Salahetdinov.
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