Ägypten am Scheideweg: Mögliche Szenarien für die Zukunft

Bei den Demonstrationen gegen die Regierung in Kairo und anderen ägyptischen Städten kamen mehr als 500 Personen ums Leben. Foto: Reuters

Bei den Demonstrationen gegen die Regierung in Kairo und anderen ägyptischen Städten kamen mehr als 500 Personen ums Leben. Foto: Reuters

In Ägypten gibt es wieder neue Proteste. Ihr Ausmaß lässt das Ausbrechen eines regelrechten Bürgerkriegs befürchten. Russische Experten diskutieren die Probleme und mögliche Lösungen.

Im Zusammenhang mit der rasant zunehmenden Verschlechterung der Situation in Ägypten hat das russische Außenministerium eine Reisewarnung für Ägypten ausgesprochen. Das Ministerium für Katastrophenschutz erklärte, sämtliche in Ägypten befindliche Russen sofort evakuieren zu können, falls es einen solchen Auftrag bekäme.

Nach letzten Meldungen kamen bei den Demonstrationen gegen die Regierung in Kairo und anderen ägyptischen Städten mehr als 500 Personen ums Leben. Am 14. August wurde zudem ein einmonatiger Ausnahmezustand verkündet, in elf Provinzen wurde zudem eine Sperrstunde festgelegt.

Das Ausmaß der Auseinandersetzungen in Kairo lässt das Ausbrechen eines kompletten Bürgerkriegs in Ägypten befürchten. Russische Experten stimmen zwar zu, dass das Risiko eines bewaffneten Konfliktes recht hoch sei, rechnen jedoch mit der Vernunft der ägyptische Eliten und deren Fähigkeit, im letzten Moment eine Einigung zu erzielen.

 

Kein schnelles Ende des Konflikts in Sicht

Marina Sapronowa, Professorin am Lehrstuhl für Orientalistik der Staatlichen Moskauer Hochschule für Internationale Beziehungen, glaubt, dass in Anbetracht der jüngsten Ereignisse nicht mit einer baldigen Stabilisierung der Situation gerechnet werden könne. „Die Situation ist sehr kompliziert, das Land ist groß und die Gesellschaft ist gespalten", sagt sie.

Die Expertin ist jedoch sicher, dass es keinen Bürgerkrieg in Ägypten geben werde: „Das libysche oder syrische Szenario wird in Ägypten nicht nachgespielt werden. Das revolutionäre Potential ist nicht so groß wie in jenen Ländern und, was noch wichtiger ist, das Land ist außenpolitisch nicht sehr aktiv. Die regionalen Akteure sind nicht an einer Destabilisierung Ägyptens interessiert."

Sapronowa geht davon aus, dass Ägypten am Ende zum alten System zurückkehren werde, da es im Lande nach wie vor nur drei reale politische Kräfte gebe: die Islamisten, die Vertreter des alten Regimes und die Armee. „Alle politischen Fragen werden im Dreiklang dieser Gruppierungen entschieden, weil es keine andere Kräfte gibt, die in der Lage wären, auf die Situation Einfluss zu nehmen", unterstreicht die Professorin.

Die führende Rolle im Land werde dabei die Armee spielen. „In allernächster Zeit muss von den Militärs ein Plan für die politische Neuordnung, eine Art Roadmap, ausgearbeitet werden. Vermutlich wird die Verfassung überarbeitet werden. Die Änderungen werden wohl vor allem die Machtbefugnisse des Präsidenten einschränken. Dagegen wird die Rolle der Armee gestärkt werden. Die neue Verfassung wird die Grundlage für eine Neugestaltung des politischen Systems bilden. Auf dieser Grundlage werden die Ägypter dann eine neue Regierung wählen", konstatiert Sapronowa.

Die Gesprächspartnerin von Russland HEUTE fügt hinzu, dass die Entwicklung in Ägypten davon abhängig sein wird, wie überzeugend die Regierung die ökonomischen Probleme angehen werde. „Hierbei spielt die Unterstützung durch die andere Staaten wie Saudi Arabien eine große Rolle", sagt Sapronowa.

 

Konflikt mit der Muslimbruderschaft könnte Militär spalten

Grigorij Kosatsch, Professor an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften, erklärt, dass die gegenwärtigen Ereignisse in Ägypten der zweite und abschließende Akt eines Staatsstreiches seien: „Im Lande gab es zwei Kräftezentren, und das eine musste früher oder später damit beginnen, das andere zu eliminieren".

Der Experte warnt davor, dass in Ägypten zurzeit viele ernsthafte Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg vorlägen: „Gegenwärtig wird der Versuch unternommen, die Muslimbruderschaft aus dem politischen Prozess herauszudrängen. Enden wird dies mit einer Radikalisierung der

Bewegung. Sie wird in den Untergrund gehen – mit allen damit verbundenen Folgen. Es wird einen Kampf des islamistischen Untergrundes mit der Regierung geben".

Kosatsch glaubt auch, dass die gegenwärtige Welle der Gewalt eine Spaltung des Militärs provozieren könne und ein Teil der Streitkräfte auf die Seite der Muslimbrüderschaft treiben werde, da es islamistische Zellen bestimmt auch in der Armee, der Polizei und bei den Geheimdiensten gebe.

Nach Meinung des Gesprächspartners von Russland HEUTE könne die Krise durch den Umstand vertieft werden, dass die gegenwärtige ägyptische Regierung äußerst instabil sei. „In der Regierung gibt es keine einhellige Meinung dazu, wie mit den Demonstranten zu verfahren ist. Darauf verweist der Rücktritt el-Baradeis. Ihm könnten auch weitere Regierungsmitglieder folgen", konstatiert der Professor.

Bezüglich der politischen Zukunft Ägyptens stellt Kosatsch fest, dass unter den Bedingungen einer geschwächten zivilen Verwaltung das Militär eine rigorose Diktatur etablieren könnte. Jedoch würde diese Periode nicht lange andauern, da die internationale Gemeinschaft einem solchen Vorgehen sehr negativ gegenüberstände. „Die Generäle möchten die internationale Unterstützung nicht verlieren. Deshalb sind sie dazu gezwungen, auf demokratische Pfade zurückzukehren und eine neue Verfassung zu schreiben", erläutert er.

 

Destabilisierung durch stark bewaffnete Bevölkerung denkbar

Wassilij Kusnezow, Dozent an der Fakultät für Internationale Politik der Moskauer Staatlichen Universität, prognostiziert im Interview mit Russland HEUTE hingegen, dass in Ägypten wohl eher eine „anhaltende Periode politischer Gewalt zu erwarten" sei wie in Algerien in den Neunzigerjahren oder gar ein Bürgerkrieg wie in Syrien.

Seinen Worten nach gebe es eine Reihe von Faktoren, die die Situation destabilisieren könnten. Erstens die Spaltung der Gesellschaft in zwei

ungefähr gleich große Gruppen. Zweitens die ernsthaften ökonomischen Probleme, die nicht einfach von heute auf morgen gelöst werden könnten und drittens die große Zahl Waffen in den Händen der Bevölkerung sowie der Zustrom von Kämpfern aus Libyen und Syrien.

„Es gibt zwei Szenarien für die Entwicklung der Ereignisse. Beim ersten Szenario zeigen sich die politischen Eliten umsichtiger als die Bevölkerung, erzielen einen Kompromiss und bringen die Bevölkerung damit zur Ruhe. Aber das ist nur dann möglich, wenn das Volk keine Waffen hat. Das zweite Szenario ist ein Bürgerkrieg", glaubt Kusnezow.

Der Experte merkt an, dass die Militärs zur Überwindung der Krise als erstes der Bevölkerung die Waffen abnehmen und sich mit den Muslimbrüdern einigen müssen. „Es sollte eine Expertenregierung gebildet und die nächsten zwei Jahre unbedingt auf eine parlamentarische Demokratie verzichtet werden. Die Regierung darf sich nicht von dem Mob auf der Straße vorführen lassen. Man könnte übrigens eine Art beratendes Gremium unter Beteiligung der Islamisten bilden. Es wäre ebenso hilfreich, zurzeit im Exil befindliche ägyptische Meinungsführer in diesen Prozess einzubinden", unterstreicht der Experte.

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