Asylbewerber aus Nordkaukasus in Deutschland: Wer steckt dahinter?

Die Zahl der Asylanträge aus dem Nordkaukasus ist in Deutschland 2013 drastisch gewachsen. Foto: Reuters

Die Zahl der Asylanträge aus dem Nordkaukasus ist in Deutschland 2013 drastisch gewachsen. Foto: Reuters

Die stark angestiegene Zahl der Flüchtlinge aus Russland könnte die Verhandlungen zwischen Moskau und der Europäischen Union über die Visapflicht erschweren.

Darüber, dass Deutschland bei den Asylanträgen eine Spitzenposition eingenommen hat, berichtete Innenminister Hans-Peter Friedrich. Er nannte die Situation „beunruhigend" und warnte: „Bis zum Jahresende werden wir die Zahl von 100 000 Anträgen erreicht haben. "Konkretere Angaben machte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Von Januar bis Juli haben 52 700 Personen Asyl in Deutschland beantragt – mehr als in jedem anderen Land der EU. Ein Fünftel der Anträge stammt von Bürgern der Russischen Föderation. Damit haben die Russen Syrien, Afghanistan, Pakistan und Serbien überholt.

„Die überwiegende Mehrheit wird von Bewohnern des Nordkaukasus, vor allem aus Tschetschenien gestellt", heißt es aus dem BAMF. Die Tageszeitung Die Welt brachte die Entwicklung derweil auf die einfache Formel: „Terroristen suchen Asyl in Deutschland".

Schleuserbanden am Werk

 „Die Flüchtlinge werden dort als abtrünnige Mitglieder der tschetschenischen Machtvertikale oder als Anhänger des radikalen Islamismus angesehen, die sich solche Staaten aussuchen, in denen die Behörden die Menschen, die in der Diaspora leben, in Ruhe 
lassen", erklärt Alexander Kamkin, Experte des Zentrums für Deutschlandforschungen am Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften.

„Die Sicherheitslage im Nordkaukasus ist nach wie vor zugespitzt", sagte ein Sprecher des BAMF und nennt als weitere Gründe für die hohe Zahl der Asylanträge aus dieser Region Armut, Hoffnung auf ein besseres Leben und die zunehmende Aktivität organisierter Schleuserbanden.

„Wenn man weiß, wie die Tschetschenen an ihrer Heimat hängen, konnten nur schwerwiegende Gründe die Menschen dazu bringen, alles stehen und liegen zu lassen und ins Ungewisse zu fahren", sagt auch die Leiterin des Komitees Bürgerunterstützung Swetlana Gannuschkina. Sie vermutet als Ausreisegrund Gerüchte über die Zuteilung von bestimmten Kontingenten speziell für Tschetschenen, von Geld und Land zum Aufbau einer neuen Existenz in Deutschland.

Sozialleistungen locken

 „Deutschland zieht die Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Nordkaukasus durch seine bemerkenswerten Sozialleistungen an", 
bestätigte die Pressestelle der russischen Botschaft in Deutschland. „Nach Meinung deutscher Fachleute wollen die Flüchtlinge tatsächlich gerade deshalb in die Bundesrepublik, weil hier im Vergleich zu anderen EU-Staaten das Niveau der Grundversorgung relativ hoch ist."

Die deutschen Behörden weisen indes die Gerüchte über „besondere Bedingungen" für Tschetschenen zurück. Den Asylbewerbern werden eine Unterkunft, 
Verpflegung und medizinische Versorgung gestellt. Der Leistungssatz sei für alle Asylanten gleich hoch und entsprächedem bundesdeutschen Existenzminimum: monatlich 276 bis 346 Euro für Erwachsene und 205 bis 268 Euro pro Kind.

In der tschetschenischen Führung zweifelt man die Richtigkeit der Angaben zu den Flüchtlingen 
grundsätzlich an. „Eine offizielle Statistik zu Tschetschenien existiert überhaupt nicht (was das BAMF bestätigte, Anm. d. Red.). Und es liegen keine Zahlen vor, wie viele Bewohner der Republik einen Asylantrag gestellt haben", erklärte der Pressesprecher des tschetschenischen Präsidenten, Alwi Karimow. „Zudem haben wir glaubwürdige Auskünfte darüber, dass viele Bewohner des Kaukasus und anderer Regionen, die in Deutschland einen Antrag stellen, sich als Tschetschenen ausgeben, obwohl sie gar keine sind. In Tschetschenien selbst gibt es keinerlei objektive Gründe dafür, dass die Menschen um Asyl in einem anderen Land bitten."

„Falsche" Tschetschenen?

 Dass alle Anträge der „Emigranten aus Tschetschenien" echt sind, bezweifelt man auch in der russischen Botschaft in Deutschland. „Die Mitarbeiter der russischen Konsularabteilungen im Ausland haben keinen Zugang zu den Flüchtlingen in den Sammel
lagern", erklärte man dort. „Die Mehrheit der Antragsteller befindet sich auf dem Territorium Deutschlands unter Verletzung der einheimischen Gesetze. Die Asylsuchenden besitzen manchmal überhaupt kein Personaldokument, und ihre Identität wird lediglich auf Grundlage ihrer 
eigenen Angabenbestimmt und registriert und entspricht häufig nicht den Tatsachen."

Die gestiegene Zahl der Asylanträge in Deutschland wirkt sich auch auf die Gesamtstatistik der der EU aus. Nach Angaben des Statistischen Amtes Eurostat haben dort im ersten Quartal 2013 Menschen aus Russland die meisten Asylanträge gestellt – doppelt so viele wie im Vorjahr.

Der sprunghafte Anstieg der Einwanderung könnte sich negativ auf die Verhandlungen zwischen Russland und der EU über die Liberalisierung und Abschaffung der Visapflicht auswirken. Bereits früher stand die EU vor der Notwendigkeit, die Migrationsgesetzgebung wegen der gestiegenen Zahl der Asylanträge aus den Balkanländern zu verschärfen.

„Die Verhandlungen mit der EU sind auch so schon problematisch", erläutert der Vizepräsident des Zentrums für Politische Technologien Alexej Makarin. „Die hohe Zahl dieser Anträge und die Existenz solcher Anträge überhaupt bieten den Europäern die Handhabe dafür, zu behaupten, dass es in der Russischen Föderation mit der Demokratie schlecht bestellt sei und dass deshalb größte Vorsicht an den Tag gelegt werden müsse."

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kommersant.

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