Bundestagswahl: Wenn Russlanddeutsche wählen würden

Russlanddeutsche stellen die größte Gruppe der deutschen Staatsbürger mit Migrationshintergrund, bleiben aber größtenteils unpolitisch. Foto: AFP/East News

Russlanddeutsche stellen die größte Gruppe der deutschen Staatsbürger mit Migrationshintergrund, bleiben aber größtenteils unpolitisch. Foto: AFP/East News

70 Prozent aller russischstämmigen Menschen in Deutschland haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Auf politische Prozesse nehmen sie aber nur selten Einfluss, obwohl ihre Zahl politisches Gewicht verspräche.

Die russischsprachigen Migranten könnten bei der kommenden Bundestagswahl eine wichtige Rolle spielen – wenn sie zu Wahlurnen gehen würden. Die Gruppe ist groß und vertritt überwiegend konservative Werte. Nur politisch sind die Russlanddeutschen nicht besonders aktiv.

„Charlottengrad" nennt man oft spöttisch den Berliner Bezirk Charlottenburg. Der im Westen der Hauptstadt liegende Stadtteil ist seit Jahren ein Magnet für russischsprachige Auswanderer. So leben hier heute einige Tausend Deutsche russischer Herkunft. In ganz Berlin beträgt die russische Gemeinde etwa 200 000 Menschen, bundesweit leben vier bis fünf Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Etwa 70 Prozent davon, in erster Linie die 2,5 Millionen Russlanddeutschen, haben die deutsche Staatsangehörigkeit und sind entsprechend wahlberechtigt.

 

Russlanddeutsche sind eher konservativ

Die große Wählergruppe sei für die deutschen Parteien ein zwar attraktives, aber dazu auch schweres Milieu, meint Dmitri Stratievski. Er ist Leiter der Projektgruppe „Russisch sprechende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Berlin" in der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt der Berliner SPD. Die Wahlsympathien der russischsprachigen Deutschen seien zu unterschiedlich und änderten sich zu leicht. „Pauschaliert eingeschätzt, unterstützten die Deutschstämmigen aus Russland im vergangenen Jahrzehnt eher die CDU, während die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion eher zerspalten waren: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wählten eher die SPD, während Teile der oberen Mittelschicht sowie Unternehmer ihre Sympathien der FDP schenkten. Die ältere Generation wählte vereinzelt auch die Linke", so Stratievski.

„Zurzeit bricht dieses Schema gravierend. Die ‚Welt' schrieb Ende Mai, dass die Union jetzt bei den russischsprachigen Menschen verliere, und nimmt damit Bezug auf den Gründungsantrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD." Der SPD-Experte hebt zudem hervor, dass die Zahlen der russischstämmigen CDU-Mitglieder schon vor der Berlin-Wahl 2011 deutlich rückläufig gewesen seien. In Marzahn-Hellersdorf zum Beispiel, einem Berliner Bezirk mit dem höchsten Anteil der Russlanddeutschen, „hatte der dortige CDU-Verband 2011 noch 20 russlanddeutsche Mitglieder. Es waren einmal mehr als 60."

 

Russlanddeutsche könnten Einfluss nehmen

Das Potenzial der Russlanddeutschen, Wahlen zu beeinflussen, wird längst nicht ausgeschöpft. Insbesondere in den Ballungsgebieten könnten die russischsprachigen Wählerinnen und Wähler eine große Rolle spielen, meint Dr. Sergey Lagodinsky, Publizist, Anwalt und Kandidat für den Bundestag für Bündnis90/Die Grünen (Landesliste Berlin).

„Die russischsprachige Berliner Bevölkerung ist eine der größten Zuwanderergruppen in der Hauptstadt. Nehmen wir Berlin-Mitte. Bei Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, führt die Gruppe der russischsprachigen Wähler die Liste als zweitgrößte Gruppe nach türkischstämmigen Wählern an", sagte Lagodinsky gegenüber Russland HEUTE.

Während in Berlin etwa 200 000 russischsprachige Bürgerinnen und Bürger leben, ist die russische Gemeinde in Hannover etwa 60 000 Menschen stark. Die Sozialgruppe geht aber eher ungern an die Wahlurnen. „Die Rolle der russischsprachigen Wählerschaft war trotz nomineller Größe – sie ist die größte eingebürgerte Migrantengemeinschaft in Deutschland – bis dato

recht gering. Im Gegensatz zu hier geborenen Deutschen und zu Türkeistämmigen bleiben die Russischsprechenden eher passiv", sagt Stratievski von der SPD.

Indirekt bestätige das beispielsweise die Studie von Dr. Uwe Hunger von der Uni Münster aus dem Jahr 2009, die die politische Partizipation der Migrantinnen und Migranten in Deutschland unter die Lupe nahm. Hunger käme zum Schluss, dass die russischsprachigen Nutzerinnen und Nutzer der deutsch-russischen Internetforen eher unpolitisch und stärker auf ihr Herkunftsland fokussiert seien. Nach Meinung Stratievskis sei ein solches Verhalten durch die sowjetische Vergangenheit und die schlechten politischen Erfahrungen der Migranten aus dem postsowjetischen Raum zu erklären.

 

Rechte Tendenzen sind ein Problem

Die Ablehnung der sowjetischen Vergangenheit kann ein Grund dafür sein, dass die russischsprachigen Deutschen öfter für konservative bis hin zu rechten Parteien stimmen. „Die russischsprachige Wählerschaft ist traditionell wertekonservativ. Bei Aussiedlern und Spätaussiedlern sind die rechten Tendenzen eng mit dem nationalen Selbstbewusstsein als Deutsche, häufig in scharfer Abgrenzung zu anderen Zuwanderergruppen verbunden", bestätigt Lagodinsky.

Insbesondere bei der rechtsradikalen NPD sind solche Aktivitäten der Russlanddeutschen erstaunlich sichtbar. Die Spätaussiedler Johann Thießen und Juri Sommer haben es vor einigen Jahren sogar geschafft, bei Kommunalwahlen in Düren, Nordrhein-Westfalen, als NPD-Kandidaten

anzutreten. „In einigen NPD-Unterorganisationen war früher jedes vierte Mitglied russlanddeutscher Abstammung", konstatiert Dmitri Stratievski. Diese Übersättigung der rechtsextremen Gruppen durch Russlanddeutsche sei aber seit einigen Jahren nicht mehr der Fall, fügt er hinzu.

Nur durch eine kontinuierliche Aufklärung könnten die demokratischen Partien die Stimmen der Russlanddeutschen für sich gewinnen, meint Sergey Lagodinsky. „Aus meiner Erfahrung sind russischsprachige Wähler zunächst sehr skeptisch hinsichtlich Bündnis90/Die Grünen. Jedoch ist diese Skepsis schnell verfolgen, sobald sie über Einzelheiten der grünen Programmatik erfahren, so etwa im Bereich der Politik für sozial Benachteiligte und Rentner oder im Bezug auf Familiennachzug. Insofern sehe ich dort ein großes Potenzial", sagt der Berliner Politiker.

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