Verfassungskrise 1993: Erinnerungen eines Reporters

Foto: ITAR-TASS

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Anfang Oktober 1993 eskalierte die russische Verfassungskrise. Der damalige BBC-Korrespondent Grigorij Nechoroschew erinnert sich an die Pressearbeit inmitten von Missgunst und Kugelhagel.

Es ist 20 Jahre her, dass ich in der Nacht vom 24. auf den 25. September 1993 an eine Wand gelehnt auf dem Boden in einem Gang des Weißen Hauses saß und mein Schicksal еrwartete. An beiden Enden des Korridors, Dutzende Meter von mir entfernt, hatten in Tarnkleidung angezogene, junge Männer im Alter zwischen 25 und 30 Jahren mit ihren Kalaschnikow-Gewehren in improvisierten Gefechtsständen Stellung bezogen. Es waren Kämpfer der RNE, der Russischen Nationalen Einheit von Aleksandr Barkaschow (eine rechtsextreme, paramilitärische Bewegung, Anm. d. Red.).

Ich befand mich dort zwei Nächte lang, bis ich beschloss, vom Weißen Haus zur BBC-Redaktion zu gehen, um über den vierten Tag des Machtkampfes zwischen dem Obersten Sowjet der UdSSR und dem amtierenden Präsidenten Boris Jelzin zu berichten. Mobiltelefone waren zu dieser Zeit eine Seltenheit und die städtischen Telefonzellen im Haus des Obersten Sowjets waren abgeschaltet. Damit ich also eine Reportage übertragen konnte, musste ich alle zwei bis drei Stunden in die Stadt zur nächstgelegenen Telefonzelle oder zum Redaktionsbüro gehen – nur so konnte ich Londons aufgezeichneten Interviews mit einem Vertreter des rebellierenden Parlaments zuvorkommen.

Die RNE wurde schnell zur Bedrohung

Die ersten vier Tage verliefen problemlos. Doch am Abend des 25. Septembers tauchten in den Gängen des Parlaments Hunderte bewaffnete Kämpfer der RNE auf und stellten neue Regeln auf. „Aha, ein BBC-Korrespondent", sagte einer der Kämpfer, der sich meine Akkreditierung ansah, die ich vom Außenministerium ausgestellt bekommen hatte. „Wir müssen dich erschießen, weil du unser Feind bist – und noch dazu ein gefährlicher."

Erklärungen wurden von niemandem angehört. Ich wurde durchsucht, man nahm mir meine Tasche zusammen mit meinem Diktiergerät und meinen Papieren weg und befahl mir, mich an eine Wand zu setzen, wo ich mich im Blickfeld von zwei bewaffneten Kämpfern befand. So verbrachte ich im gedämpften Licht der Notlampe die nächsten eineinhalb Stunden. Die Stromzufuhr hatte man abgeschaltet. Auch das Wasser war abgedreht worden, weswegen es aus den Toiletten bereits stark nach Exkrementen roch.

Gegen vier Uhr morgens kam dann derselbe Kämpfer wieder zu mir und sagte: „Ruzkoj hat angeordnet, dich in der Früh frei zu lassen. Glück gehabt. Noch wirst du leben." Er brachte mich in einen Büroraum, wo auf den Tischen unter zerstreuten Blättern, auf denen das Parlamentslogo zu sehen war, noch zwei weitere Kämpfer schliefen. Doch schlafen wollte ich nicht.

Der eine Kämpfer fragte mich dann, warum ich, ein Russe, für den Feind, die Engländer, arbeitete: „Die Amerikaner und die Engländer sind die schlimmsten Feinde Russlands. Sie versuchen schon seit vielen Jahren, die Jahrzehnte alte Gesellschaftsordnung Russlands sowie ihre heilige, orthodoxe Mission in der Welt mit ihren verdorbenen Ansichten und ihrer übermäßigen Freizügigkeit zu korrumpieren. Sehen Sie fern? Dort wird genau so etwas gezeigt!"

Ich wollte mit ihm nicht streiten, da ich Angst hatte. Ich sagte daher, dass ich lediglich Reporter sei und mich mit philosophischen Dingen nicht auskenne. Worüber ich reden könne, seien Tatsachen. So wie mir erging es auch anderen, wie beispielsweise dem japanischen Jiji-Press-Korrespondenten Daniil Galperowitsch, der von RNE-Kämpfern gleich dreimal verhaftet wurde.

Die Stimmung in der Stadt kippte schnell

Der Versuch, die tragischen Ereignisse zu schildern, schürte Aggressionen gegenüber Journalisten: sowohl die Vertreter der einen als auch der anderen Seite nahmen uns nicht als objektive Beobachter wahr, sondern als aktive Teilnehmer an den Ereignissen. Dabei gingen die Aggressionen sogar von einfachen Schaulustigen aus, von denen es zu dieser Zeit in der Umgebung des Weißen Hauses sehr viele gab. Selbst die Bewohner der nahegelegenen Häuser waren uns nicht wohlgesonnen, da sie verständlicherweise das, was vor ihren Haustüren geschah, satt hatten.

Es stellte sich heraus, dass man für wenig Geld vorübergehend in eine Wohnung ziehen konnte, die sich direkt neben dem Schauplatz befand. So richtete man in einigen Wohnungen in oberen Stockwerken improvisierte Redaktionen der Sender CNN, ABC und CBC ein. Deshalb gibt es heute viele gelungene Bildaufnahmen vom Sturm auf das Hochhaus, in dem sich damals viele Ämter der Stadtverwaltung befanden, und von den Zusammenstößen auf dem Platz neben dem Weißen Haus.

Am Abend des 3. Oktobers 1993 verlagerten sich dann die Ereignisse auf den Fernsehturm Ostankino, den die bewaffneten Anhänger des Obersten Sowjets einzunehmen versuchten. Dort, unter den Menschenmengen, die das Gebäude stürmen wollten, befanden sich mehr als hundert Journalisten. Plötzlich eröffneten die Spezialeinheiten vom Dach aus das Feuer.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich etwa 200 Meter von mir entfernt sehen konnte, wie Surab Kodalaschwili, ein freier Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters, und der AFP-Korrespondent Stephan Bentura versuchten, Pierre Celerier, ebenfalls Korrespondent bei AFP, aufzuhelfen. Ich versuchte, durch die Menge zu ihnen zu gelangen, doch ich wurde von der Masse weggedrängt. Erst später erfuhr ich, dass Celerier verwundet wurde: Ein Projektil hatte ihn unter seiner schusssicheren Weste am Rücken getroffen. Am gleichen Abend kamen Rory Peck, ein freier Korrespondent des deutschen Nachrichtensenders ARD, und Yvan Skopan, ein Journalist des französischen Senders TF1, ums Leben. Peck, der mit seiner Kamera fast alle „Krisenherde" der ehemaligen UdSSR bereist hatte, war ein geselliger Mensch – mit ihm waren alle befreundet.

Der Sturm auf das Regierungsgebäude

Nach einer schlaflosen Nacht kehrten die Journalisten wieder zum Weißen Haus zurück, da bekannt geworden war, dass bei Sonnenaufgang das Regierungsgebäude gestürmt werden würde. Und tatsächlich war es dann so: Um sechs Uhr näherte sich vom Kutusow-Prospekt aus eine Panzerkolonne, die auf das Gebäude zu beschießen begann.

Nach einem halben Tag und dutzenden Telefonreportagen von Telefonzellen aus konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Plötzlich fiel mir ein, dass ein US-amerikanischer Bekannter eine Einzimmerwohnung im obersten Stockwerk eines Hochhauses im Novy Arbat gemietet hatte, wo ich mich dann hinbegab. In der Wohnung saß Paul Klebnikow, ein Forbes-Korrespondent, am Fenster. Ohne ein Wort zu sagen saßen wir einige Stunden lang am Fenster – als würden wir vor einer Theaterbühne sitzen – und beobachteten, was vor dem Weißen Haus geschah. Klebnikow notierte hin und wieder etwas in seinem Notizblock, ich hingegen lief jede halbe Stunde in die Küche, um telefonisch eine Reportage zu bringen.

Gegen 15 Uhr war der Novy Arbat voll mit gepanzerten Wagen. Auf den Dächern der Häuser tauchten hier und da Menschen mit Gewehren und Sturmgewehren auf, aus den Schützenpanzern begann man mit Maschinengewehren auf die Dächer zu feuern. Plötzlich hörten wir, dass vom Dach unseres Gebäudes aus das Feuer erwidert wurde. Wir liefen aus der Wohnung in den Gang und warfen uns auf den Boden. In diesem Moment schoss eine Kugel durch das Fenster des Ganges und prallte als Querschläger von der Decke auf den Fliesenboden ab, wobei mich ein Fliesensplitter über dem Auge traf. Ich blutete.

Die Tür der Nebenwohnung öffnete sich und wir wurden von den Nachbarn hineingerufen: Es waren ein Mann, eine Frau und ein etwa siebenjähriger Junge, die im Vorraum, dem in der Wohnung sichersten Ort, saßen. Als wir uns dort zusammendrängten, sah der Junge das Blut in meinem Gesicht und schrie: „Sie haben den Mann getötet, Mama. Sie haben ihn getötet!" Irgendwie antwortete ich automatisch, dass sie mich nicht getötet hatten, sondern dass ich betrunken ausgerutscht und hingefallen sei. Der kleine Junge lächelte mich an. Klebnikow sagte: „Das ist das Ende des sowjetischen Regimes." Der Sohn eines russischen Emigranten und Nachfahre des Dekabristen Iwan Puschtschin sollte einige Jahre nach seiner Umsiedlung nach Paris wieder nach Russland zurückkehren, um Chefredakteur der russischen Ausgabe des Forbes-Magazins zu werden. Im neuen, nichtsowjetischen Russland wurde er umgebracht.

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