Wettbieten um die Ukraine

Im Ringen um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU scheinen die Bedingungen für die Ukraine nicht attraktiv genug. Foto: AFP / East News

Im Ringen um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU scheinen die Bedingungen für die Ukraine nicht attraktiv genug. Foto: AFP / East News

Die Ukraine steht zwischen den Stühlen: Ein Abkommen mit der EU würde eine Zollunion mit Russland unmöglich machen. Diese aber könnte viel Geld bringen.

Die Entscheidung Kiews, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU zu verschieben, rief einen Sturm der Empörung in den europäischen Gremien hervor, doch im Grunde gibt es einen ganzen Komplex an wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die Präsident Wiktor Janukowitsch dazu zwangen, die Annäherung an Europa zu vertagen.

 

Beziehungen mit der EU haben sich als zu kostspielig erwiesen

Premierminister Nikolaj Asarow sagte bereits, dass die Assoziierung mit der EU für die Ukraine zu einem teuren Projekt werden würde: Alleine für die Annahme der technischen Standards der Union müsste Kiew 100 bis 160 Milliarden Euro innerhalb von zehn Jahren aufwenden. Dafür gibt es in der Ukraine kein Geld.

Gleichzeitig wären die Handelsbeziehungen mit Russland in Gefahr. Der Exportumfang aus der Ukraine zum großen Nachbarn sank seit dem Beginn des aktiven Prozesses der EU-Integration um 25 Prozent, sagte der Vorsitzende des Verbandes „Belieferer der Zollunion" Oleg Noginskij gegenüber „Gazeta.ru".

„Alle Unternehmen des Süd-Ostens des Landes haben Schaden genommen", klagt der Abgeordnete des Parlaments, der der pro-präsidentiellen Partei der Regionen Kolesnitschenko angehört. Seit August dieses Jahres verliert die Ukraine 15 000 bis 20 000 Arbeitsplätze monatlich. Zwischen 2,5 und 3,5 Milliarden Euro wurden in dieser Zeitspanne an Handelsumsatz verloren, sagte der Vize-Premierminister der Ukraine Jurij Bojko.

Moskau findet, dass die Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine die russische Wirtschaft schädigen würde. In diesem Fall wäre Russland gezwungen, einen einheitlichen Zolltarif einzuführen und die Regeln der Zollabfertigung zu verschärfen, um seinen Binnenmarkt vor der Wiedereinfuhr von Waren aus der EU und der Türkei zu schützen. Im Moment wird auf die gesamte Produktion aus der Ukraine – mit Ausnahme von Weißzucker – kein Zoll erhoben, sowie eine vereinfachte Deklarierung der Waren angewendet.

Ukrainische Medien gaben zuvor bekannt, dass der Gewinn der Ukraine durch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens 487 Millionen Euro betragen würde, während die EU mit 391 Millionen Euro davon profitiere. Diese Zahlen waren jedoch in keiner Weise begründet und erschienen im Rahmen einer durch die EU finanzierten Werbekampagne.

Die Anhänger der Zollunion mit Russland führen konkretere Zahlen an. „Die direkte Einsparung im Haushalt durch den Eintritt der Ukraine in die Zollunion könnte 4,5 bis 6,5 Milliarden Euro betragen, wenn man alleine die Abschaffung der Importabgaben bei Öl und Gas bedenkt. Eine Erleichterung der Einfuhr von ukrainischen Waren auf den Markt der Zollunion würde der ukrainischen Wirtschaft weitere 1,5 bis 2,2 Milliarden bringen", findet Noginskij.

Die für Kiew brennendste Frage ist die des Gases. „Eine erhebliche Senkung der Gaspreise darf die Ukraine nur bei einer Integration mit Russland erwarten. In diesem Fall würde sie einen inländischen Preis bekommen, wie auch Belarus (125 bis 135 Euro pro 1 000 m³). Außerdem wäre eine Fortsetzung des Transits durch das Gebiet der Ukraine garantiert."

Oleg Noginskij glaubt, dass sich bei einem Eintreten in die Zollunion auch ukrainische Produzenten um russische Militäraufträge bemühen könnten, dessen Umfang 500 Milliarden Euro bis 2020 ausmachen werde. „Heute sind die ukrainischen Waffenhersteller imstande, 40 Prozent dieses Auftrags zu erfüllen, was heißt, dass die ukrainische Wirtschaft in den nächsten Jahren bis zu 200 Milliarden Euro verdienen könnte", sagt der Chef der „Belieferer der Zollunion". Der Assistent des Präsidenten der Russischen Föderation Sergej Glasjew berechnete, dass der Eintritt der Ukraine in die östliche Zollunion eine Verbesserung der Handelsbilanz von bis zu 7,3 Milliarden Euro pro Jahr bringen würde. Ausgehend von diesen Berechnungen würde die Ukraine bis 2030 zusätzlich sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also 160 Milliarden Euro bekommen.

 

Es dreht sich nicht alles um Wirtschaft

Obwohl sich Kiew in erster Linie auf objektive wirtschaftliche Interessen beruft, hat die Verweigerung einer intensiveren EU-Integration auch einen schwerwiegenden politischen Unterbau. Noch Ende 2011 nahm das EU-Parlament eine Resolution an, aus der klar hervorgeht, dass als Bedingung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine nicht nur die Freilassung Julia Timoschenkos gewährt werden muss, sondern auch eine Zusage der Möglichkeit ihrer Teilnahme an den darauffolgenden Präsidentschaftswahlen.

Dabei sind weder die regierende Partei, noch die Opposition an einer Rückkehr Timoschenkos in die Politik interessiert. In der Ukraine ist es für alle offensichtlich, dass Timoschenko nach einer Behandlung im Ausland nicht wieder ins Straflager in der Nähe von Charkow zurückkehren würde.

Auch wenn Timoschenko nicht an den Wahlen teilnehmen können wird, ist sie in der Lage ihre Ergebnisse stark zu beeinflussen. Das ist ein Nachteil für den amtierenden Präsidenten Janukowitsch und kann ein Dorn im Auge der Anführer der parlamentarischen Opposition sein. Arsenij Jazenjuk („Vaterland"), Witalij Klitschko („UDAR") und Oleg Tjagnyboka („Swoboda") sehen sich alle als Hauptkandidaten aus der Opposition und vermuten, dass eine Einflussnahme Timoschenkos auf die Präsidentschaftswahlen die Karten neu mischen würde.

Der Direktor des Moskauer Instituts der GUS-Länder Konstantin Satulin findet, „die Elite in der Ukraine beginnt es zu schnallen", mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert werden könnte, wenn die „Freundschaft" mit Brüssel im Gesetz festgeschrieben wird. „Alle haben den Fall

Timoschenkos im Hinterkopf", merkt Satulin an. Seiner Meinung nach wurde die Besorgnis Europas um die ehemalige Premierministerin von Kiew als Wunsch Brüssels interpretiert, einen „eigenen" Kandidaten in den Wahlen 2015 zu haben, eine „Kandidatin mit hohen Erfolgschancen, die den ungenügend ‚wendigen' Wiktor Janukowitsch ablösen würde", unterstreicht Satulin.

Satulin glaubt, dass die EU versuche, zwei Hasen mit einem Schuss zu erlegen: die Ukraine von Russland wegzuzerren, indem sie eine mögliche Teilnahme des Landes an der östlichen Zollunion verhindert und gleichzeitig als wohltätige Schützerin normativer Werte aufzutreten. „Wie es halt oft auf der Jagd ist, klappte es nicht, zwei Hasen zu erbeuten", ironisiert der Politikwissenschaftler. „Die europäischen Emissäre haben sich einfach verritten".

Nach Meinung des Experten sollte man auch keinen sofortigen Beitritt der Ukraine in die Zollunion, die gerade gegründete Eurasische Union und andere solche Strukturen erwarten.

„Das ist die Rückkehr zur für die Ukraine traditionellen Politik der Mehrvektorenpolitik, oder der ‚Schaukelpolitik'", unterstreicht Satulin. „Das ist ein typischer Zustand für die ukrainische Elite, die keinen Herren dulden will, weder aus Moskau, noch aus Brüssel. Es ist klar, dass die Unterzeichnung des Vertrags mit der EU diese Mehrfachausrichtung in eine einseitige Orientierung umgekehrt hätte".

 

Nach Materialen von Wsgljad und Gazeta.ru.

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